Grundlagen der Gewaltprävention

Was ist Gewaltprävention

Gewaltprävention fußt auf der Überzeugung, den Erfahrungen und Erkenntnissen, dass es Handlungsmöglichkeiten gegen Gewalt gibt, die der Anwendung von Gewalt vorbeugen.

Prävention bedeutet, durch Vorbeugen spätere Kosten zu sparen, bzw. Schlimmeres zu verhindern. Dies will auch Gewaltprävention: durch rechtzeitiges Handeln Gewalt verhindern. über diese allgemeine Aussage hinaus gibt es jedoch keine gemeinsam anerkannte Definition, was unter Gewaltprävention zu verstehen ist und wie Vorbeugung zu geschehen habe, obwohl der Begriff ständig in vielfältigen Zusammenhängen verwendet wird.

Der Hinweis, Gewaltprävention zu betreiben, dient der Handlungslegitimation (im Dienste der öffentlichen Sicherheit), der Forderung nach Mitteln (hier ist finanzielle Förderung dringend geboten) und der Produktion von Konsens (wir sind doch alle für Gewaltprävention).

Geklärt sind jedoch weder der Gegenstandsbereich noch die genauen Ziele und Methoden, die mit Gewaltprävention gemeint sind. Gewaltprävention, wie sie oft diskutiert wird, bezieht sich vor allem auf die Verhaltensbeeinflussung von Personen. Sie orientiert sich vorwiegend an Normübertretungen Jugendlicher und ist – zumindest im Kontext westlicher Industrieländer – vor allem auf das Phänomen Jugendkriminalität ausgerichtet.

Der Begriff muss aber neben dieser individuellen Dimension, die Verhalten im Blick hat, auch eine strukturelle und institutionelle Dimension erhalten, die die Verhältnisse, die dieses Verhalten (mit-)bedingen, berücksichtigt und darüber hinaus auch eine kulturell-gesellschaftliche Dimension, die Legitimationsebenen dieser Verhältnisse einbezieht.

In den letzten Jahren hat sich die Verwendung des Begriffs Gewaltprävention geradezu inflationär ausgeweitet, mit der Gefahr einer Entgrenzung der Gewalt- und Präventionsbegriffe. Deshalb ist es wichtig, von einem kinder- und jugendspezifischen Verständnis von Gewalt und einem engen Verständnis von Gewaltprävention auszugehen, das die Reduzierung und die Verhinderung von Gewalt zum Ziel hat (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalprävention 2007; Steffen 2007, S. 208).

Prävention: Prävention ist zunächst das eigentliche und primäre Geschäft der Pädagogik. Prävention meint, dass Verhältnisse so stabil sein müssen, dass sich in ihnen schwieriges Verhalten nicht entwickelt bzw. dass es da, wo es anfängt sich zu entwickeln, aufgehalten und abgefangen werden kann. Prävention zielt auf Verhältnisse, die ein gelingendes Großwerden möglich machen. Prävention zielt darauf, und da gibt es großen Nachholbedarf, dass die Schulen gut sind, dass die familialen Verhältnisse verlässlich und attraktiv sind, aber auch, dass es ein Gemeinwesen gibt, in dem Probleme aufgefangen werden können und nicht abgeschoben und exkludiert werden müssen.
Hans Thiersch: Wie geht die Sozialpädagogik mit Regel- verletzungen junger Erwachsener um? Bad Boll 2007.

Gewaltprävention und das Verständnis von Gewalt
Das Verständnis von und die Maßnahmen zur Gewaltprävention sind davon abhängig, was unter Gewalt verstanden wird und wo die Ursachen von Gewalt gesehen werden. Im Kontext von Gewaltprävention wird Gewalt häufig als physische Gewalt verstanden. Auch die Gutachter der unabhängigen Regierungskommission zur Bekämpfung von Gewalt hatten in ihrem Bericht von 1990 nur individuelle körperliche Gewalt im Blick (Schwind u.a. 1989). Gewalt lässt sich auf unterschiedlichste Weise definieren, es kommt immer darauf an, wer den Begriff mit welchen Interessen und zu welchem Zweck verwendet. Alltagsvorstellungen von Gewalt haben in der Regel eher beschreibenden Charakter.

Johan Galtung hat mit seiner Unterscheidung von personaler, struktureller und kultureller Gewalt heftige Diskussionen ausgelöst und gleichzeitig den Blick auf vielfältige Gewaltverhältnisse geöffnet (vgl. Kap. 2.1). Obwohl das Gewaltverständnis von Galtung oft kritisiert wird – vor allem sei es zu weit gefasst und zu wenig operationalisierbar – ist es für Gewaltprävention interessant, weil sie das Legitimationssystem von Gewalt und die äußeren Verhältnisse mit einbezieht und die gegenseitige Abhängigkeit der drei Bereiche – personale, strukturelle und kulturelle Gewalt – thematisiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legte in ihrem 2002 veröffentlichten World Report on Violence and Health eine detaillierte Typologie von Gewalt vor, in der Gewalt verstanden wird als: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem kör­perlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt“ (WHO 2003, S. 6). Diese Definition umfasst zwischenmenschliche Gewalt ebenso wie selbstschädigendes oder suizidales Verhalten und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Staaten.

In ihrer Typologie von Gewalt nimmt die WHO eine Reihe von Differenzierungen vor, die für die Praxis der Gewaltprävention wichtig erscheinen. Hier kann genau verortet werden, wo einzelne Maßnahmen notwendig sind und wie weit sie reichen (ausführlich in Kap. 2.1).

Gewaltprävention braucht einen differenzierten und kritischen Gewaltbegriff. Aber nicht nur, was unter Gewalt verstanden wird, sondern auch, wo die Ursachen und Funktionen von Gewalt gesehen werden, ist für die Praxis der Gewaltprävention in und außerhalb der Schule entscheidend (vgl. Melzer/Ehninger 2002, S. 39).

Gefühlte Kriminalität: Die gefühlte Kriminalitätstemperatur liegt nun einmal, wie wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt haben, weit von der Wirklichkeit entfernt. So hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen zu dieser Frage in den Jahren 2004 und 2006 bundesweit jeweils eine repräsentative Bevölkerungsbefragung durchgeführt. Danach geht die große Mehrheit der Bevölkerung davon aus, dass im Verlauf der letzen zwölf Jahre die Kriminalität in nahezu allen Bereichen stark zugenommen hat. Die Tatsache, dass beispielsweise vollendeter Mord, Wohnungseinbruch, Bankraub oder Autodiebstahl seit 1993 um 40 bis 80 % zurückgegangen sind, war etwa 90 % der Bevölkerung nicht bewusst. Als Hauptursache der weit verbreiteten Fehleinschät­zungen hat das KFN eine sehr emotionalisierende und zeitlich ansteigende Kriminalitätsberichterstattung im Fernsehen ausgemacht. Aber auch die Boulevardpresse trägt offenbar zu diesen Fehleinschätzungen der Bevölkerung erheblich bei.
Susann Rabold/Dirk Baier/Christian Pfeiffer: Jugendgewalt und Jugenddelinquenz in Hannover. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen. Hannover 2008, S. 5 f.

Gefühlte und tatsächliche Gewalt
Während in den Medien seit über 30 Jahren von beängstigend zunehmender Kriminalität und Gewalt berichtet wird, zeigen wissenschaftliche Analysen der Kriminologie ein anderes Bild. Die in den Medien transportierte Sichtweise, Jugendgewalt und auch Gewalt an Schulen nehme dramatisch zu, die Gewalttäter würden dabei immer jünger und brutaler, stimmt so nicht mit der Forschungswirklichkeit überein. Kriminalität, zumal Gewaltkriminalität, nimmt langfristig ab. Auch Gewalt von Kindern und Jugendlichen sowie Gewalt an Schulen sind seit längerem rückläufig bzw. stagnieren (vgl. Baier/Pfeiffer 2009). Die berichteten „Zunahmen“ sind auf statistische Effekte, bzw. ein verstärktes Anzeigeverhalten zurückzuführen und werden immer wieder an medienwirksamen Einzelfällen festgemacht. Es gilt also, von einer realistischen Einschätzung der tatsächlich vorhandenen Gewalt auszugehen und Alarmismus zu vermeiden (Steffens 2007; 2009 S. 39). Problematisch ist die Entwicklung allerdings bei jugendlichen Mehrfachtätern, sowie Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Empirische Studien zeigen im übrigen, dass die Kriminalitätsfurcht in keinem Zusammenhang mit der tatsächlichen Kriminalität steht.

Auch der Bundesverband der Unfallkassen in Deutschland hat in einer 2005 vorgelegten und 2008 aktualisierten Studie das gewaltverursachte Verletzungsgeschehen an Schulen für den Zeitraum 1993-2007 untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass langfri­stige Zeitreihenbeobachtungen zur physischen Gewalt an Schulen bundesweit einen Rückgang physischer schulischer Gewalt zeigen.

Auch eine zunehmende Brutalisierung sei nicht zu erkennen (Baier/ Pfeiffer 2009, S. 10; Bundesverband der Unfallkassen 2005, S. 21; Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung 2009).

Dieser Trend, dass Gewalt an Schulen relativ konstant ist bzw. abnimmt, ist auch – entgegen aller Erwartungen – in langfristigen Untersuchungen über Gewalt an Schulen in den USA feststellbar (DeVoe 2004, Pöhl 2006).

Die meisten Problembeschreibungen sind darüber hinaus nur auf einen Teilaspekt des Problems, nämlich auf Schülergewalt ausgerichtet und nicht auf „Gewalt an der Schule“, also auch auf Gewalt, die durch Lehrerinnen und Lehrer ausgeübt oder durch das Schulsystem mit verursacht wird.

Nur lückenhaftes Wissen: Das Wissen über die Wirksamkeit der bestehenden Präventionsmaßnahmen ist äußerst lückenhaft. Gewaltprävention ist nur ansatzweise in eine umfas­sende und langfristig angelegte Gesundheitsförderung integriert. Präventionsmaßnahmen für verschiedene Altersstufen, Lebensbereiche und Bevölkerungsgruppen sind kaum aufeinander abgestimmt. Wenig integrierte Bevölkerungsgruppen werden nur teilweise erreicht.
Eidgenössische Ausländer­kommission EKA (Hrsg.): Prävention von Jugendgewalt. Wege zu einer evidenzbasierten Präventionspolitik. Bern-Wabern 2006, S. 8.

Erkenntnisse zur Wirkung von Gewaltprävention
Das generelle Problem der Gewaltprävention besteht nicht darin, dass zu wenige Programme entwickelt oder angeboten werden. Es besteht vielmehr darin, dass bestehende Programme selten oder gar nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft werden (Scheithauer 2008, S. 72). In der Praxis der Gewaltprävention sind inzwischen unzählige Ansätze und Modelle zu finden: Kletterwand, Streetworker, Streitschlichtergruppe, Kommunikationstraining, Anzeigen- und Plakataktion, Mentorenprogramme, Selbstsicherheitstrainings, Erziehungsratgeber, Internetangebote, Gemeinwesenentwicklung, Täter-Opfer-Ausgleich, Anti-Aggressions-Training und viele andere Modelle und Ansätze stehen weitgehend unverbunden und unvermittelt nebeneinander und beruhen oft auf unterschiedlichen Menschenbildern und Voraussetzungen und vor allem fußen sie in aller Regel weder auf konkreten Problemanalysen noch gibt es Aussagen über ihre tatsächliche Wirkung in Bezug auf Gewaltreduktion.

Die Erkenntnisse über die Wirkungen von Maßnahmen der Gewaltprävention sind nicht sehr umfangreich. Evaluationsstudien, die wissenschaftlichen Kriterien standhalten, sind immer noch Mangelware. In der Literatur finden sich überwiegend Beschreibungen von Praxisansätzen und Modellen, kaum jedoch deren kritische Diskussion. Darüberhinaus sind Wirkungsanalysen auch methodisch äußerst komplex, da Verhalten immer überdeterminiert, d.h. von einer Vielzahl von Einflussfaktoren abhängig ist.

Mit dem Sherman Report (1998) und dem Düsseldorfer Gutachten (2002) liegen zwei qualifizierte Meta-Studien vor, die die vorhandenen Evaluationsergebnisse systematisch ausgewertet haben und daraus auch klare Hinweise für die Praxis ableiten. Des Weiteren hat die Weltgesundheitsorganisation (2002) mit ihrem Weltreport über Gewalt und Gesundheit und der damit verbundenen Kampagne eine wichtige Grundlage für ein umfassendes Verständnis von Ge­waltprävention gelegt, auf das im deutschsprachigen Raum aller­dings kaum zurückgegriffen wird.

Gewaltprävention arbeitet häufig theorielos und ohne Erfolgskontrolle. Sie kann jedoch nur dann effektiv sein, wenn in der Praxis auf gesicherte Erkenntnisse über Wirkfaktoren, die Gewalt verhindern können, zurückgegriffen werden kann. Das typische Präventionskonzept wird heute immer noch ohne Evaluation durchgeführt und zwar sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen als auch der Planung, Umsetzung und Kontrolle. „Solange als einzige, aber doch wichtigste Rechtfertigung für ein kriminalpräventives Projekt nur die Präventionsabsicht angegeben wird, erscheint ein solches Vorgehen unökonomisch, unwissenschaftlich und letztlich unsinnig“, so Andreas Ammer, Landesbeauftragter für Prävention in Rheinland-Pfalz (2004).

Evaluationen sind im deutschsprachigen Raum die Ausnahme, nicht die Regel. In angelsächsischen Ländern werden vermehrt Evaluationen durchgeführt. Dennoch werden positiv evaluierte Programme nicht systematisch eingesetzt.

Es mangelt also an einem intensiven Diskurs über Qualität und Effektivität von Maßnahmen zur Gewaltprävention vor dem Hintergrund von Evaluationsergebnissen. Was ebenso fehlt, ist eine entsprechend breit angelegte Forschung zu diesem Bereich. Die wichtigen Ergebnisse der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkrimi­nalitätsprävention in München (2007) können diese Defizite nicht ausgleichen. Geklärt werden muss also im Sinne einer evidenzbasierten Gewaltprävention:

  • welche Präventionsmaßnahmen wirksam sind und welche wirkungslos;
  • welche Maßnahmen sogar schädlich sind;
  • wie die Umsetzung und Implementierung von in der Forschung entwickelten Programmen möglich ist;
  • wie wirksame Maßnahmen auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen/Bevölkerungsgruppen angepasst werden können;
  • welche Aspekte in der praktischen Umsetzung von Maßnahmen für die Wirksamkeit verantwortlich gemacht werden können (DFK 2007, S. 812 ff.).

Strukturelle Überforderung?
Anforderungen an Gewaltprävention lauten u.a.: alle Arten von Gewalt einbeziehen, multimodal ansetzen (also Familie, Schule, Peers usw. gleichzeitig ansprechen), die spezifischen Lebensbedingungen berücksichtigen, die Maßnahmen wissenschaftlich begleiten und evaluieren lassen und in Netzwerken arbeiten, die alle Lebensbereiche berücksichtigen (vgl. u.a. Karstedt 2001, S. 11-19).

 Obwohl diese Forderungen zweifellos richtig sind, ist doch zu fragen, ob sie im Rahmen der bislang vorfindbaren Praxis überhaupt zu realisieren sind oder eher zu einer strukturellen Überforderung führen. Dieser umfassende Anspruch wird nochmals deutlicher, wenn man die Liste der als „häufigsten Fehler“ identifizierten Unterlassungen bei der Durchführung von Gewaltprävention betrachtet. Unterlaufen diese „Fehler“ nur aus Unkenntnis und persönlichen Unzulänglichkeiten? Oder liegen sie im Projekt Gewaltprävention insgesamt begründet, weil ein solches immer wieder angemahntes und zwangsläufig komplexes Vorgehen in der Praxis nur äußerst schwer zu verwirklichen ist?

Die häufigsten Fehler bei Gewaltprävention
Als häufigste Fehler werden in der Literatur genannt:

  • mangelnde Kooperation mit anderen Einrichtungen;
  • mangelnde Situationserhebung;
  • mangelnde theoretische Fundierung;
  • mangelnde Berücksichtigung des Zyklus der Konfliktentstehung;
  • fehlende Kontinuität der Projekte;
  • mangelnde Unterstützung der Mitarbeiter;
  • Überschätzung der Wirkung von einzelnen Projekten;
  • mangelnde finanzielle Absicherung;
  • mangelnde Berücksichtigung der Funktion der kulturellen Überzeugungen, Gepflogenheiten und Arrangements;
  • mangelnde Verzahnung von gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Hilfen.

Die Gefahr der Instrumentalisierung
Konzepte und Maßnahmen der Gewaltprävention können auf allen Ebenen (individuell, kommunal, gesellschaftlich) unter dem Vorwand der Sicherheit repressiv missbraucht bzw. instrumentalisiert werden. Eine Instrumentalisierung kann von zwei Seiten aus geschehen:

  • Instrumentalisierung des Begriffes und Anspruchs: Um an finanziellen Mitteln zu partizipieren (die es z.B. für Projekte der Gewaltprävention, nicht mehr aber für allgemeine Jugendarbeit gibt), wird die bisherige pädagogische oder psychologische Praxis als Modell für Gewaltprävention umdefiniert. Darüber hinaus wird Gewaltprävention zunehmend auch ein Markt für die private „Sicherheitsindustrie“, die ihre „Produkte“ (Seminare, Trainings, Bewachungen usw.) verkaufen will.
  • Die Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten wird von staatlichen Institutionen unter dem Versprechen, Sicherheit zu gewährleisten, als Maßnahme zur Gewaltprävention deklariert. Dabei wird die Bürgerfurcht missbraucht und Handlungsbereitschaft demonstriert, ohne Klarheit über Erfolgsaussichten zu haben. Dies wird (z.B. im kommunalen Bereich) deutlich, wenn Vorstellungen von „sauberen und ordentlichen“ Innenstädten durchgesetzt und dabei auch Randgruppen aus der Stadt gedrängt werden oder wenn Videoüberwachungen eingeführt werden. Wird ein Problem oder Thema „versicherheitlicht“, d.h. erfolgreich als Bedrohung der Sicherheit (zumindest für einen Teilbereich der Gesellschaft) definiert, wird es nicht nur bevorzugt vor anderen Themen behandelt, sondern auch (zumindest vorübergehend) bevorzugt mit Ressourcen ausgestattet (vgl. Schirmer 2008).

Die Konzentration auf individuelle Gewalt im Rahmen von Gewaltprävention und ihre Bekämpfung lenkt zugleich von gesellschaftlichen Notlagen und staatlicher Gewalt ab. Die Etikettierung von bestimmten (unliebsamen oder lästigen) Handlungen als Gewalt (z.B. demokratische Protestformen wie Sitzblockaden) dient auch der Kriminalisierung und Verfolgung von (politischen) Gegnern oder oppositionellen Personen und Gruppen.

Es wird hier sichtbar, dass zwei grundlegende Konzeptionen von Gewaltprävention konkurrieren:

  • Ordnungspolitisch orientierte Top-Down-Strategien, die populistisch ausgerichtet oft nur Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgreifen. Dem Problem der Kriminalität und Gewalt wird dabei durch strengere Gesetze und Verordnungen, durch Überwachung, hartes Durchgreifen, harte Bestrafung und eingeschränkte persönliche Freiheiten begegnet.
  • Demokratisch-partizipatorisch orientierte Ansätze, die der Erkenntnis entspringen, dass Probleme den Betroffenen „gehö­ren“ (Ownership) und diese in die Lösung verantwortlich einbe­zogen werden müssen. Entwicklungsbezogene, psychologisch-pädagogisch orientierte Netzwerkansätze dominieren hier.

Diese grundlegenden Orientierungen sind auch im Schulbereich zu finden: etwa wenn private Sicherheitsdienste (wie z.B. an verschiedenen Berliner Schulen) die Personenkontrolle über die Schule übernehmen oder wenn die Einhaltung von Disziplin als primäres Ziel gesehen wird.

Männer und Frauen
Männer und Frauen spielen verschiedene Rollen im Kontext von Gewalt. Oft wird von einer fatalen Arbeitsteilung im Geschlechter­verhältnis gesprochen: „Männer sind Täter, Frauen sind Opfer“. Diese Perspektive trifft, zumindest was den Jugendbereich betrifft, nicht zu. Hier sind junge Männer primär Opfer und Täter. Der Bereich der physischen Gewalt ist eindeutig eine Männerdomäne. Doch die Differenz wird (im Jugendbereich) kleiner. Auch Frauen wenden (z.B. im häuslichen Bereich) Gewalt an, wenngleich in anderen Formen als Männer. Hinzu kommt, dass Frauen immer wieder unterstützende oder stabilisierende Funktionen für die Gewalthand­lungen von Männern übernehmen.

Der Genderaspekt lenkt den Blick auch auf die gesellschaftlich, kulturell und religiös legitimierten tradierten Vorstellungen von „Mann sein“ und „Frau sein“. Traditionelle Rollendefinitionen, die beim Mann sexuelle Potenz ebenso einschließen wie den Umgang mit Waffen, Autos und Maschinen, Macht oder Machtbefugnissen als Familienvorstand beinhalten auch die eigenen Interessen und Bedürfnisse gegen die anderer Familienmitglieder durchzusetzen. Auch wenn diese Zuschreibungen und Rollendefinitionen zuneh­mend aufgeweicht werden und in modernen Industriegesellschaften, die einem partnerschaftlichen Modell des Zusammenlebens folgen, keinen Platz mehr haben, brechen sie sich immer wieder neu Bahn und sind in traditionell geprägten Milieus immer noch dominant. Zehn Prozent aller Jungen verlassen die Schule ohne Abschluss, aber nur fünf Prozent der Mädchen. Jungen (vor allem mit Migra­tionshintergrund) sind die neue Problemgruppe im Schulsystem (vgl. Döbert 2008).

Für Gewaltprävention bedeutet dies, dass geschlechtsspezifische Maßnahmen und Modelle entwickelt werden müssen und dass darüber hinaus die Bilder von Mannsein und Frausein zu hinterfragen sind. Scheithauer (2008, S. 89) hat vor diesem Hintergrund spezifische Anforderungen an Maßnahmen der Gewaltprävention, die sich an Mädchen richten, formuliert. Diese Maßnahmen

  • berücksichtigen die psychosozialen Belastungen von Mädchen und fokussieren auf eine Stärkung des Selbstwertgefühls und eines positiven Körperbildes;
  • berücksichtigen die familiären Bedingungen und fördern vor allem eine positive Mutter-Tochter-Beziehung;
  • fördern positive soziale Beziehungen und soziale Einbindung;
  • hindern Mädchen im Jugendalter daran, sich mit gewalttätigen/ devianten männlichen Jugendlichen einzulassen;
  • berücksichtigen die Gefahr von Frühschwangerschaften.

Noch wichtiger erscheinen spezifische Angebote für Jungen und junge Männer, die gewaltlegitimierende und gewaltfördernde Männerbilder und Männlichkeitsnormen thematisieren (vgl. Baier/ Pfeiffer 2007, S. 46 ff.).

Gewalt ist einfach – Gewaltpräventionkomplex: Unsere menschliche Ausstattung zum Wahrnehmen und Behalten, zum Denken und Lernen, ist auf Vereinfachung gegenüber dem Vorgegebenen hin angelegt. Das Einfache, die Reduktion komplexer Fragen auf das „Wesentliche“ wird in unserer Gesellschaft weitgehend positiv bewertet. So liegt es nahe, dass bei der Diskussion auch hochkomplexer und vielschichtiger Sachverhalte diese Komplexität oft zugunsten klarer Einfachheit, Eindeutigkeit und Eindimensionalität auf der Strecke bleibt. Gegen Jugendgewalt ist dann „härter durchgreifen“ die einzige Strategie. Radikale Vereinfachung ist eine der großen Vorbedingungen für destruktive Gewalt.
Manfred Sader: Destruktive Gewalt. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verminderung. Weinheim und Basel 2007, S. 59 f.

Der pädagogische Blick
Der Pädagoge (geht) zunächst von den Entwicklungsmöglichkeiten, den Lernmöglichkeiten des Heranwachsenden und der Frage (aus), wie diese gestützt und gefördert werden können. Wichtig aber scheint mir für den pädagogischen Ansatz zu sein, dass alle diese Formen eines schwierigen, regelverletzend auffälligen Verhaltens verstanden werden müssen als Ausdruck der Anstrengung, mit seinem Leben zurande zu kommen oder als Bewältigungsversuch. Es sind vielleicht die falschen Mittel, es sind vielleicht falsche Vorgaben, es sind falsche Muster, aber es steckt in ihnen die Anstrengung, mit den Verhältnissen zurande zu kommen. Biografien und vor allem biografische Selbsterzählungen – sei es von Straßenkindern, sei es von jungen Menschen im Strafvollzug – sind eindrucksvoll darin, dass es immer ein Kampf ist, dass man versucht und scheitert, dass man sich etwas vornimmt und dazu unter gegebenen Bedingungen Talente braucht, die in sich hoch anspruchsvoll sind; ein Straßenleben zu organisieren, ist etwas, was sicher viele von uns nicht könnten. – Also abweichendes, schwieriges Verhalten als Ausdruck der Anstrengung, sein Leben zu bewältigen, gerade auch da, wo es schwierig, für einen selbst unglücklich und für die Gesellschaft unglücklich ist, als Versuch, mit den Grundbedürfnissen nach Geborgenheit, Sinn, Produktivität, Sich-selbst-erfahren, Anerkennung zurande zu kommen.
Hans Thiersch: Wie geht die Sozialpädagogik mit Regelverletzungen junger Erwachsener um? Ein Beitrag aus der Tagung: Jung, erwachsen, straffällig – was tun? Heranwachsende im Strafrecht. Bad Boll 2007.

Kollektive Gewalt und individuelle Gewalt
Modelle und Maßnahmen der Gewaltprävention beziehen sich weit­gehend auf den individuellen Bereich, auf die Gewalt im Alltag von Menschen. Lenkt man den Blick auf strukturelle und kollektive Gewalt, so zeigt sich, dass in Situationen der Unterdrückung, der Verletzung von Menschenrechten und von bewaffneten Auseinan­dersetzungen nicht nur die Anwendung privater Gewalt zunimmt, sondern vor allem auch die Zahl von Gewaltopfern. Müsste sich Gewaltprävention (nicht nur im Kontext von Entwicklungszusam­menarbeit) deshalb nicht gleichzeitig um die Eindämmung struktureller und kollektiver Gewalt kümmern und die stillschweigend vereinbarte Arbeitsteilung, hier die Bearbeitung privater Gewalt, dort die der kollektiven Problemlagen, aufgeben?
Gewaltprävention benötigt also eine Doppelstrategie: Arbeit an den konkreten Gewaltorten (individuelles Verhalten, Familienstrukturen, Schule, Peergruppen, Gemeinwesen usw.) und Schaffung von effek­tiven Rahmenbedingungen: Bekämpfung von Armut, Etablierung rechtlicher Regelungen usw.

Täter und Opfer
Im Kontext von Gewaltprävention werden Kinder und Jugendliche primär unter dem Aspekt von (potentiellen) Tätern gesehen. Alle Untersuchungen zeigen jedoch, dass sie gleichzeitig und oft in viel größerem Maße Opfer von häuslicher Gewalt und von Gewalt anderer Jugendlicher und Erwachsener sind, was für ihre weitere Entwicklung enorme Belastungen mit sich bringt. Nimmt man die sozioökonomische Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hinzu, dann zeigt sich nach Zahlen des statistischen Bundesamtes für das Jahr 2006, dass 2,5 Millionen (17 %) unter oder knapp über der Armutsgrenze leben und 1,5 Millionen (11 %) Sozialhilfeempfänger waren. In einer Studie der Europäischen Union werden (für das Jahr 2004) 14 % der Kinder in Deutschland (0-17 Jahre) mit einem Armutsrisiko eingestuft (Eurochild/AGJ 2008, S. 1).

Kriminalprävention oder Gewaltprävention
Gewaltprävention wird häufig dem Bereich der Kriminalitätsbekämpfung zugeordnet und auf die Bekämpfung der Gewaltkriminalität reduziert. Dabei werden (im deutschen Sprachgebrauch) die Begriffe Kriminalprävention und Gewaltprävention häufig synonym gebraucht, ohne ihren spezifischen Bedeutungsgehalt, ihre unterschiedlichen Voraussetzungen und Ziele zu berücksichtigen.

Die Weltgesundheitsorganisation plädiert entschieden dafür, dass Gewaltprävention von Kriminalprävention unterschieden und strikt getrennt werden muss (WHO 2004). Denn Kriminalprävention orientiert sich an der Verhinderung von Straftatbeständen. Hierzu gehören für den Jugendbereich wesentlich die Delikte Kaufhausdiebstahl und Schwarzfahren. Es geht hier primär um die Sicherung von gesetzeskonformem Verhalten und die Verhinderung von Normübertretungen.

Dieser Ansatz ist für den Bereich der primären Gewaltprävention ungeeignet, zumal viele Delikte, die unter Strafe stehen, nichts mit Gewalt zu tun haben, während andererseits viele Gewaltformen nicht von der Strafjustiz erfasst werden.

Eine Chance für pädagogische Unterstützung
Gewalthandeln von Kindern und Jugendliche erweist sich (...) als eine Form, in der diese sich nicht nur ihrer Haut erwehren, sondern auch Grenzen austesten, sich selbst und einem Gegenüber Stärke, Einfluss, Wehrhaftigkeit sowie Macht beweisen, nach Anerkennung und spürbarer Körpererfahrung, dem besonderen Kick bzw. Spaß suchen. Gewalthandeln ist daher auch ein – solange es sich nicht gleichsam rituell verselbstständigt hat – fast immer unangemessener, letztendlich auch persönlich nicht befriedigender Lösungsweg, von dem nahezu alle Kinder und Jugendlichen wissen, dass er eigentlich nicht akzeptabel ist. Gewalthandeln von Kindern und Jugendlichen ist – so verstanden – deshalb immer auch ein Anlass, die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit des eigenen und fremden Handelns auf einer abstrakten, allgemeinethischen Ebene sowie – wichtiger noch – in Bezug auf die jeweilige Konstellation zu thematisieren, zu bedenken und den Umgang damit weiterzuentwickeln. Es ist, mit anderen Worten, eine – wenn auch hin und wieder missglückende – Chance zum Lernen und somit unter günstigen Bedingungen eine Chance für pädagogische Unterstützung.

Christian Lüders/Bernd Holthusen: Gewalt als Lernchance. Jugendliche und Gewaltprävention. München 2007 (Arbeitspapier), S. 10-11, Auszüge www.dji.de/jugendkriminalität

Gewalt als Lernchance
Gewalt nicht pauschal zu ächten, sondern als Lernchance anzunehmen ist die große Herausforderung aller pädagogischen Ansätze und Bemühungen um Gewaltprävention. Dies bedeutet nicht, sie zu akzeptieren und zu verharmlosen. Wohl aber, Gewaltprävention in erster Linie erzieherisch und als koproduktiven Prozess zu verstehen: Gewalt kann und muss vorrangig durch Erziehung, Lernen und Kompetenzerwerb bewältigt werden, und eine nachhaltige Gewaltprävention kann nur gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen, mit den Peers sowie mit Eltern, anderen Erzie­hungspersonen, sowie dem relevanten sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen gelingen. Gewalt als Lernchance anzunehmen bedeutet,

  • den Charakter von Gewalt als weitgehend altersspezifisches Phänomen, das viel mit den Problemen und Aufgaben zu tun hat, die im Jugendalter, beim Aufwachsen und Heranwachsen bewältigt werden müssen, zu sehen und zu beantworten.
  • die Delinquenz junger Menschen, auch ihr Gewalthandeln, mit „Augenmaß“ zu betrachten und zu beurteilen. Es geht um Verständnis für die alltägliche Gewalt unter Menschen und ihre Funktionen.
  • Gewalthandeln von Kindern und Jugendlichen nur als einen und nicht als den zentralen Aspekt ihres Verhaltens zu sehen, stattdessen den Fokus stärker auf ihre Kompetenzen, Ressourcen sowie die Ausbildung von Schutzfaktoren zu richten (vgl. Arbeits­stelle Kriminalprävention 2007; Steffen 2007, S. 210, 214).

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