Rezension von Prof. Dr. Herbert Ulonska
Gugel, Günther: Handbuch Gewaltprävention II. Für die Sekundarstufen und die Arbeit mit Jugendlichen. Grundlagen – Lernfelder – Handlungsmöglichkeiten. Institut für Friedenspädagogik e.V./WSD Pro Child e.V.Tübingen 2010.
Hatte ich schon den Band I in meiner Besprechung ausgelobt, so kann ich dieses Lob auch über den Band II des Handbuches nur fortsetzen. Es liegt tatsächlich wieder ein ungewöhnliches Handbuch vor, „das seinesgleichen sucht“ (Begleitwort WSD). Nicht nur die von Jan Roeder speziell für das Handbuch gemachten Fotos sind treffsicher auf die Texte bezogen und kommentieren diese in intensiver Weise, auch der Aufbau des überaus umfangreichen Materials, die Abfolge der Inhalte und die Zuordnung der einzelnen Texte zu den Themen überzeugen. Besonders die in grüner Farbe unterlegten Zitate und Kommentare ergänzen die Themenfelder. Der Dreischritt Definition – Lernfelder – Handlungsmodelle gibt den Lesenden Hilfen mit hoher Transferqualität nicht nur für den schulischen Alltag. Dass sich der Seitenumfang gegenüber dem Band I vergrößert hat, wundert mich nicht; denn der Adressatenbezug auf Sek. I/II macht es nur verständlich, dass die Konfliktfelder in dieser Lebensphase umfangreicher sind als in der Primarstufe.
In den ethischen Prämissen zeigt sich, dass der Band in einem „Institut für Friedenspädagogik“ entstanden ist: „Voraussetzung für ein gelingendes Zusammenleben ist eine hohe Verlässlichkeit, dass Gewalt weder in zwischenmenschlichen Beziehungen noch im gesellschaftlichen Zusammenleben einen Platz hat, sowie dass Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden.“ (S.9) Umso nötiger sind Strategien zur Gewaltprävention zu entwickeln, damit Konflikte auch gewaltfrei ausgetragen werden können und, als Utopie gedacht, Gewalt einmal überflüssig wird. Wenn Günther GUGEL hier besonders an Bildung und Erziehung im Bereich von Schule denkt, so ist ihm nur zuzustimmen, dass „jegliches Lernen ein angstfreies Klima“ (S.9) voraussetzt, womit natürlich nicht nur die Interaktionsebene Schüler – Schüler sondern auch die Lehrer – Schüler gemeint ist. Darüber hinaus darf der gesellschaftliche Kontext im Blick auf strukturelle Gewalt nicht vergessen werden, was schon das Foto vom „Wohnsilo“ verdeutlicht.
Auf den Seiten 11 – 20 werden die sogn. „Basics der Gewaltprävention“ vorgestellt, die sich in den Bausteinen des Handbuchs wiederholen. Dieser Wiedererkennungswert ist vor allem für die unterrichtliche Vorbereitung nützlich, da er das Strukturieren erleichtert. Die 14 Gestaltungskriterien bedenken die analytisch-diagnostische Ebene, wozu auch die Frage nach der Ressourcen- und Resilienskompetenz gehört, weiter der Konfliktraum Schule/Klasse, die Interaktionspartner, auch die Eltern und die Ebene der akzeptierten oder noch zu lernenden Normen. Auch der Aufbau des Handbuchs zeigt sehr übersichtliche Strukturen. Sie nehmen die „Basics“ wieder auf, was überzeugend für die Geschlossenheit der Gesamtkonzeption spricht: Nach den Definitionen werden die Interaktionspartner beschrieben, dann die Handlungsorte und die konstruktiven Konfliktlösungsmittel. Ausführlich,- und das zutreffend für Jugendliche zwischen 10 – 16 Jahren, geht GUGEL auf die Normen und Werte ein, was für diese Alterstufe der Pubertät nur zu begrüßen ist. Besonders hervorheben möchte ich die Bereiche interkulturelles Lernen, Mobbing und Zivilcourage. Dass auch „Amoklauf an Schulen“ aufgenommen ist, weist auf die hohe Aktualität des Handbuchs hin. Wieder zeigt sich überzeugend der Dreischritt: Vom Deskriptiven über das Normative zum Handlungsmodell. Auch dem Fotografen ist es überzeugend gelungen, mit den Fotos auf S. 20 das Miteinander von Lehrenden und Lernenden positiv darzustellen.
Der Definitionsteil (S.22-221) beginnt mit den Grundlagen (S.22-37). Präzise Definitionen grenzen das Problemfeld ein und sind damit hilfreich für einen Problemlösungsweg, um nicht Erwartungen zu wecken, die zu Enttäuschungen führen können. „Gewaltprävention braucht einen differenzierten und kritischen Gewaltbegriff.“ (S.24) Konsensfähig ist sicher das Grundmotiv von Gewaltprävention: es ist der Glaube, erwachsen aus der Erfahrung, dass es Handlungsstrategien gegen Gewalt gibt, die erlernbar (Erziehung) und auch durch „Verhaltensbeeinflussung von Personen“ (S.22) umsetzbar sind. Wer Gewalt als Problemlösung akzeptiert, wird Präventionsbemühungen ablehnen. Könnte eine solche Haltung mit dem Defizit an Wissen über die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zusammenhängen? Ich begrüße es sehr, dass GUGEL auch den Punkt über die Wirkung von Gewaltprävention aufgenommen hat. Ich kann dem Hinweis nur zustimmen, dass nicht die Fülle der Projekte schon auf eine Wirksamkeit hinweisen, sondern gut recherchierte Evaluationsstudien, an denen es leider noch mangelt. „Gewaltprävention arbeitet häufig theorielos und ohne Erfolgskontrolle.“ (S.26) Dabei haben wir doch jahrelang in den Fachdidaktiken die Formulierung von Lernzielen und am Ende die Lernzielkontrollen gefordert. Verkommt Unterricht zum Event oder Happening? Hat die Phase der „Spaßgesellschaft“ die Ernsthaftigkeit von Lernkontrolle relativiert? Haben wir jetzt nach „Schluss mit lustig“ (Peter Hahne) wieder die Chance Erziehungsziele und ihre Erfolge zu kontrollieren? Dem Forderungskatalog (S.26 unten) und der Mängelliste (S.27) ist nur zuzustimmen.
Kann das Phänomen der Gewalt auch Lernchancen implizieren? Eine überraschende Frage! „Gewalt nicht pauschal zu ächten, sondern als Lernchance anzunehmen ist die große Herausforderung aller pädagogischen Ansätze und Bemühungen um Gewaltprävention. Dies bedeutet nicht, sie zu akzeptieren und zu verharmlosen. Wohl aber, Gewaltprävention in erster Linie erzieherisch und als koproduktiven Prozess zu verstehen.“ (S.33) Wird z.B. im Unterricht biografisch-hermeneutisch gearbeitet und auf die jeweiligen Lebensphasen der Adressaten geachtet, vor allem auf die Übergänge wie die Pubertät, wird ein Problemlösungsverhalten in Phasen der Identitätsdiffusion so genanntem Testverhalten, zu Probiersituationen, zum Austesten von Grenzen. So gehört auch zur primären Prävention ein alternativisches Denken und Handeln, zur sekundären und tertiären Prävention der Erwerb einer differenzierenden Konfliktkompetenz, wie sie auf den Seiten 34 ff. beschrieben wird.
Die „Ansätze der Gewaltprävention“ (S.36) zeigen eine Fülle von Möglichkeiten für gezielte Projekte mit dem Ziel der „Entwicklung einer Kultur des Friedens“. Wenn GUGEL eine Friedenskultur auf der Basis einer „Gesamtgesellschaftliche(n) Strategie der Demokratisierung und Zivilisierung“ (S.37) sieht, so kann man sicher von visionären Zielen sprechen. Doch diesem utopischen Denken kann ich nur zustimmen, weil dadurch enorme gestalterische Impulse und Kräfte freigesetzt werden. In der Umsetzung in die Praxis werden „Positionspapiere“ vorgestellt, die zur Diskussion anregen, was gerade für den Transfer so wichtig ist.
Das 2. Kapitel eröffnet den Dreierschritt mit der gründlichen Analyse aller Formen der Gewalt. Zutreffend wird von „Grundwissen“ gesprochen, weil ohne dieses die im 1. Kapitel analysierte Gewaltprävention nicht umsetzbar würde. „Gewaltprävention ist davon abhängig, was unter Gewalt verstanden wird und wo die Ursachen von Gewalt gesehen werden.“(S.54) Die Vielschichtigkeit von Gewalt, diese Mehrdimensionalität eines Phänomens, macht eindeutige Definitionen (fast) unmöglich. Darum bedarf es darüber des interdisziplinären Dialogs, der in diesem Kapitel des Handbuchs umfangreich und gründlich geführt wird. Überzeugend wird in diesem Kontext die Rückwirkung auf die Präventionsarbeit reflektiert, wobei für die Praxis die Reduktion auf die Schwerpunkte der individuellen (personal) und institutionellen (struktural) Gewalt hilfreich sein kann, aber zu Recht auf die Erweiterungen immer zu verweisen ist, z.B. nach Johan Galtung (S.56), der das Gewaltdreieck zwischen direkter, struktureller und kultureller Gewallt entworfen hat und weiter noch nach einem sichtbaren und unsichtbaren Bereich unterscheidet.
Auch der Gewaltbegriff der WHO (S.57f.) lässt sich auf ein Dreieck reduzieren:
selbstschadende, interpersonelle, kollektive Gewalt. Dass alle Definitionsversuche auch ihre Grenzen haben, zeigt GUGEL am Ende an seinem umfangreichen Fragekatalog (S.66). Da aber die Gewaltprävention eines eindeutigen Gewaltbegriffs bedarf, ist die Diskussion immer neu in je ihrer Zeit zu führen. Besonders hilfreich erweisen sich die aufgelisteten Zusammenhänge, in denen Aggressionen vorkommen und wahrgenommen werden. Der Umgang mit Aggressionen ist sicher ein weites und weiteres Lernfeld. (Vgl. M 4 S.76)
Nach der allgemeinen Einführung in den Gewaltbegriff (Kp. 2.1) wird nun auf die „Gewalt an Schulen“ (2.2) fokussiert. Diese Form der Gewalt genauer zu bestimmen, scheint wegen der differenzierten Wahrnehmung von Schulleitung, Lehrern, Schülern äußerst schwierig, ebenso auch wegen der unterschiedlichen Perspektiven, erwachsen aus einem ungeklärten Gewaltbegriff. Und Untersuchungen klammern den „Tatort Schule“ oft auch noch aus. So bietet das Handbuch zwei Statistiken (aus Berlin und Sachsen), die nur sehr vorläufige
Bewertungen zulassen. Gewarnt wird auch vor medialen Einseitigkeiten in der
Berichterstattung über schulische Gewalt. Hier helfen Pauschalisierungen nicht weiter. Als hilfreich und weiterführend erweist sich der gute und überzeugende Hinweis auf die Zahlen des „Bundesverbandes der Unfallkassen“ (S.99), aus denen ein Rückgang von Unfällen aus aggressivem Verhalten von Schülern zu ersehen ist. Dass sich die Altersgruppe der 11-15- Jährigen überdimensional gewalttätig zeigt (S.100), wundert wegen der pubertären Lebensphase nicht.
Dankbar bin ich für die Auswertung der Tabelle auf S.103, weil hier deutlich wird, welche Wechselwirkung zwischen öffentlicher Beschimpfung, Blamieren, Diffamieren durch die Lehrkraft, Schüler ermutigt werden, es mit den Mitschülern ebenso zu tun. Die Vorbildfunktion der Lehrperson ist für ein positives Klassen- und Lernklima gefordert!
Die Materialien zur Umsetzung gehen von der Prämisse aus, dass die nicht mehr zu leugnende Gewalt an Schulen akzeptiert wird, um daraus auch die entsprechenden Handlungsmodelle zu entwickeln. Dieser Ansatz ist unbedingt zu akzeptieren, weil neben der Information auch die Akzeptanz im eigenen Umfeld zur gelingenden Prävention gehört.
Nach der institutionellen Recherche (in 2.2) wird nun (in 2.3) individuell nachgefragt: „Jugendliche in Krisensituationen“ (S.121ff.). Diese Korrelation von Krisensituation und Gewaltbereitschaft nimmt die Wertigkeit von Lebensphasen ernst, in denen Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung durchaus akzeptiert wird. Diesen „Übergangsidentitäten“ wird die nötige Aufmerksamkeit gegeben, was ich sehr begrüße; denn „Krisensituationen sind existenzielle Konflikte, die subjektiv als äußerst belastend erlebt werden.“ (S.122) Konfliktbegleitung ist deshalb erforderlich, wofür das Handbuch überzeugende Hilfen für eine konstruktive Konfliktkultur anbietet.
Viel umfangreicher werden „Destruktive Bewältigungsstrategien“ (S.125ff.) abgehandelt, weil ihnen beim Thema Gewalt die besondere Aufmerksamkeit gilt. Die Liste der destruktiven Gewalt gegen sich selbst beginnt mit Essstörungen, dann die Selbstverletzungen, es folgen die suizidalen Verhaltensweisen. Die drei autoaggessiven Handlungen werden kurz beschrieben, um einen Ersteindruck zu gewinnen. Wie notwendig eine Behandlung im Unterricht der Einstiegsdroge Alkohol für Jugendliche ist, bedarf wohl keiner Diskussion mehr. Hier wird ein Schwergewicht für die präventive Arbeit liegen müssen. Sicher haben wir in der BRD noch kein großes Problem mit Straßenkindern, auch wenn hier eine große Dunkelziffer zu vermuten ist, aber das Problem des Abhauens und Schuleschwänzens gehört mit zu der Liste der destruktiven Konfliktlösungen Jugendlicher.
Dankenswert und umfangreich wird die neue Resiliensorientierung (S.134ff.) aufgenommen, um nicht nur negative Prävention zu betreiben sondern konzeptionell nach Möglichkeiten zu suchen und sie lernorientiert auch strategisch einzusetzen, um bewusst zu machen, wie Jugendliche selbstbewahrende Kräfte in Konfliktphasen einbringen können. Resilienz darf keine neue „Masche“ werden, weil schon vorhandene Konfliktlösungskompetenzen vorhanden sein müssen und als Grundbedürfnisse schon mitgebracht werden. Wieweit resilientes Verhalten ohne Konflikterfahrung „theoretisch“ erlernt werden kann, ist weiter zu erforschen.
Die Stärken des Handbuches zeigen sich erneut in dem reichhaltigen Angebot an Materialien für die Umsetzung des Theorieteils in die Praxis. Auch wenn in einzelnen Materialien für Eltern und Lehrer neben ergänzenden Informationen Zusammenfassungen angeboten werden, lassen sie sich als Textvorlagen gut diskutieren. In den Schülermaterialien wird immer wieder zur eigenen Stellungnahme herausgefordert, was den Lernprozess beflügelt.
In einem weiteren Kapitel (2.4) wird jugendliches Verhalten in Krisensituationen im Blick auf Jugendgewalt konkretisiert (S.157). Beginnend mit der juristischen Klärung und Abgrenzung von Gewalt und Kriminalität von Jugendlichen, wird nicht nur nach den Tätern sondern auch nach den Opfern gefragt. Mehr noch: „Jugendliche sind oft beides, Opfer und Täter“ (S.163).
Besonders gefallen hat mir der Abschnitt „Pubertäre Normalität“ (S.164-165), weil es GUGEL gelingt, „Probleme der Erwachsenen mit pubertärem Verhalten“ (S.164) bewusst zu machen. Ebenso gibt die Vertiefung „Funktionen der Gewaltanwendung“ (S.166-169) nützliche Hinweise im Umgang mit pubertärer Gewalt, weil der älteren Generation ein Spiegel vorgehalten wird. Gelassenheit und Glaubwürdigkeit sind nützliche Tugenden beim Bemühen, Jugendgewalt zu desymbolisieren, um alternative Handlungsoptionen anzubieten. „Gewalt löst zwar kein Problem, aber sie macht auf sie aufmerksam.“ (S.167) So räumen die präventiven Handlungsansätze mit manchem Vorurteil auf, z.B. mit der populistischen Forderung nach härteren Strafen.
Nach vier mehr analytischen Kapiteln werden in 2.5 („Gewaltprävention in der Schule“) Transfermöglichkeiten aufgezeigt. Der Prämisse ist unbedingt zuzustimmen: „Oberster Grundsatz für die Schule muss sein: ‚Gewalt hat in der Schule keinen Platz’, Schule muss ein sicherer Ort sein, an dem alle ohne Angst und Furcht leben und arbeiten können.“ (S.190) Nur ein ganzheitlicher Ansatz, wie er von GUGEL vertreten wird, hat Chancen auf Erfolg: Schüler-Klasse-Lehrer-Schule-Elternhaus-Gemeinde-Gesellschaft. Wie ein solcher multimodaler Ansatz in der Schulwirklichkeit realisierbar werden kann, wird überaus eindrucksvoll (S.193-198) nach den Bildungsforschern Klaus-Jürgen Tillmann und Heinz G. Holtappels beschrieben. Als besonders anregend habe ich die Materialien M3/M9/M13 wegen der vertiefenden und weiterführenden Erkenntnisse gelesen.
Aus dem nächsten großen Kapitel „Lernfelder und Ansatzpunkte“ möchte ich exemplarisch das Kapitel „Medien“ (3.8) herausgreifen, weil diese immer wieder auch in die öffentliche Kritik geraten, wenn es um die Ursachensuche für Gewalthandlungen geht. Ich möchte beginnen mit dem grün unterlegten Kasten auf S. 468: „Medien verändern unsere Welt, unsere ethischen Vorstellungen, unsere Gefühle – und deshalb müssen wir auch Einfluss auf die Medien nehmen.“ (Zitiert nach Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. In: tv diskurs, 4/2007, S.28) Dass Medien Handlungen beeinflussen, wurde und wird umfangreich diskutiert, dass auch Einfluss auf die Medien genommen wird, lässt sich wegen der Konsumentenhaltung kaum in gleicher Intensität nachweisen. Dabei leben unsere Jugendlichen in einer Medienwelt, die sie prägt, auch im Umgang mit Gewalt, wobei jeweils zu unterscheiden ist, ob es sich um reale Gewalterfahrungen handelt oder fiktional-medial konsumierte Gewalt.
Diese aspektreiche Diskussion wird auch intensiv in diesem Kapitel des Handbuchs geführt, was die älteren Lesenden zur eigenen Stellungnahme herausfordert. Kausale Zusammenhänge zwischen medialer und „real existierender“ Gewalt lassen sich nicht nachweisen, wohl aber Gewaltimpulse, die rezeptionsintensiv wirken. Dazu ist auch erforderlich, die einzelnen Formen der Gewalt zu kennen und wie sie in den Medien dargestellt werden (S. 472f.), wie z.B. die „saubere“ Gewalt, die “dem Opfer keinen sichtbaren Schaden zufügt“ (S.472), oder die identifizierbare Gewalt, die vom Betrachtenden schon selbst erlebt wurde und damit von ihr eine gewisse „Anziehungskraft“ ausgeht. Selbst erlebte Gewalt, die medial dargestellt wird, könnte den Eindruck der Normalität vermitteln.
Was erst langsam in das öffentliche Bewusstsein dringt, sind die „Gefahren durch das Internet“ (S.473ff.) GUGEL beruft sich auf Michael Kunczik/Astrid Zipfel, um allen Älteren, die sich für das von den Jugendlichen konsumierte Gewaltmaterial weniger interessieren, die Augen für die implizierten Gefahren zu öffnen. Jede Forderung nach einer Medienpädagogik für das Internet ist zu unterstützen; denn:
- was in öffentlichen Medien an Grausamkeiten nicht mehr gezeigt wird, findet im Internet seine Fortsetzung;
- was als Tötungsdelikt unter Strafe steht, kann im Computer-Spiel beliebig praktiziert werden;
- was von Angesicht zu Angesicht an Beleidigungen nicht auszusprechen gewagt wird, kann im Chat-Room gefahrlos verbalisiert werden (Cybermobbing);
- was an rechtsextremistischen Behauptungen öffentlich verboten ist, kann beliebig ins Netz gestellt werden.
Im Handbuch wird aber auch höchst aktuell auf Formen der Auflösung des Schutzes der Persönlichkeit und der Menschenwürde hingewiesen, wenn es Jugendlichen einen „Spaß“ macht, mit dem Handy Gewaltszenen (Happy Slapping) aufzunehmen und zur eigenen Renommiersucht ins Netz zu stellen. Diese Form eines öffentlichen Prangers bedarf dringend einer Wertediskussion, was auch im Handbuch informativ angeregt wird, wozu auch die angebotenen Informations- und Unterrichtsmedien beitragen.
Aus dem großen 4. Kapitel „Handeln in Problem- und Gewaltsituationen“ möchte ich das Unterkapitel “Verhalten in akuten Gewaltsituationen“ (S.537ff.) exemplarisch besprechen, da in ihm auch das vorausgehende Kapitel über die Zivilcourage mit enthalten ist.
Der Prämisse möchte ich unbedingt zustimmen, dass präventives Handeln in
Gewaltsituationen dem Täter/der Täterin eindeutig verdeutlicht, dass ein solches Handeln keine Anerkennung findet. Eine solche Ächtung isoliert auch nicht das Opfer und nimmt Zuschauer in die Pflicht zum Einschreiten. Wie wichtig darum die Analyse der Täter-Opfer-Zuschauer-Kostellation einzuschätzen ist, wird deutlich erarbeitet.
Zuschauer können wegen unterlassener Hilfeleistung zu Co-Tätern werden, was nicht deutlich genug gemacht werden kann. Und für Opfer gilt sicher auch, dass sie sich ihrer Rolle bewusst werden, die sie „zur leichten Beute“ machen kann, was aber keineswegs die Schuld der Täter relativieren darf. (Vgl. zu Opferrolle S.541) Wie schnell ein Wechsel der Opfer-Täter-Rollen möglich ist, zeigen die jüngsten Fälle sexualisierter Gewalt in den Ferienlagern im Sommer
2010 in Ameland (Kinder aus Osnabrück) und Meldorf (Messdiener aus Xanten).
Ebenso nötig muss das Verhalten des Hinsehens/Standhaltens versus Wegsehens/Flüchtens diskutiert werden, was sehr sensibel im Handbuch bedacht wird. Hier ist die Aus- und Weiterbildung in konstruktiver Konfliktkultur gefordert aber auch die immer wieder notwendige Selbstreflexion im Umgang mit eigener Gewalt. Das Handbuch jedenfalls trägt in summa ganz entschieden Auseinandersetzung bei.
Anhang:
Zur schnellen Orientierung aber auch zur Vertiefung wird ein „Instrumentarium“ in der Form eines Lexikons angeboten.
Für die vertiefende Weiterarbeit findet sich, gegliedert nach den einzelnen Kapiteln und Abschnitten, ein umfangreiches Literaturverzeichnis auf sehr aktuellem Stand.
Prof. Dr. Herbert Ulonska