Amoklauf an Schulen

School Shootings

Bei der systematischen Auswertung von Schulmassakern konnten Kriminologen und Psychologen eine Reihe von Gemeinsamkeiten feststellen, wenngleich von keinem einheitlichen Profil ausgegangen werden kann (vgl. Bannenberg 2009, Landeskriminalamt NRW 2007, Wickenhäuser 2007, S. 31):

  • Junge Männer: Nahezu alle Täter waren junge Männer.
  • Familie: Die Täter stammen nicht aus besonders schwierigen oder „zerbrochenen“, sondern eher aus „funktionierenden“ Familien.
  • Psychische Auffälligkeiten: Die Täterpersönlichkeiten sind wohl in weitaus höherem Maße psychopathologisch (Depression/Schizophrenie) als bislang angenommen, wenngleich dies i.d.R. erst nach der Tat diagnostiziert wurde.
  • Einzelgänger: Es handelte sich bei den Tätern oft, aber nicht immer, um introvertierte Einzelgänger, die in ihrer subjektiven Sichtweise keine funktionsfähigen sozialen Strukturen aufweisen.
  • Verhaltensauffälligkeiten: Nur ein kleiner Teil der Täter hat bereits vor der Tat Gewalt gegen Menschen angewandt. Auch sonst waren sie nicht überproportional auffällig.
  • Schusswaffen: Die Mehrzahl der Taten wurden mit Schusswaffen durchgeführt. Fast alle Täter waren von Waffen fasziniert und hatten ungehinderten Zugang zu Waffen, die häufig den Vätern gehörten. Der gekonnte Umgang mit diesen Waffen war zuvor eingeübt worden.
  • Medien: Gewalt verherrlichende Video- und Computerspiele sowie Gewalt glorifizierende Musik spielten im Leben der meisten Attentäter zwar eine gewisse, aber nicht die dominante Rolle.

School Shootings School Shootings bezeichnen Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten oder zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden. Dieser Bezug wird entweder in der Wahl mehrerer Opfer deutlich oder in dem demonstrativen Tötungsversuch einer einzelnen Person, insofern sie aufgrund ihrer Funktion an der Schule als potenzielles Opfer ausgewählt wurde. „Amokläufe bzw. Massenmorde durch Jugendliche an Schulen“ und „schwere zielgerichtete Gewalttaten an Schulen“ stellen geläufige Umschreibungen des Begriffes dar.
Frank J. Robertz/Rubens Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007, S. 10.

Anerkennungszerfall
Die dramatische Verengung und Vergeltung durch extreme Gewalt steht am Ende eines Anerkennungszerfalls. Anerkennungszerfall bedeutet nicht bloß den Verlust von Prestige, sondern löst die Persönlichkeit auf, weil niemand auf Dauer ohne Anerkennung leben kann. Der Fall ins Bodenlose steht zur Debatte.

Auf existenzielle Fragen der sozialen Integration (Wer braucht mich? Wer nimmt meine Stimme ernst? Wohin gehöre ich?) gab es offensichtlich keine sinnhaften Antworten mehr, so dass insbesondere aufgetürmte Ungerechtigkeitsempfindungen sowohl den Kontrollverlust über den weiteren Lebensweg, als auch den Kontrollverlust über die Konsequenzen für andere in Gang setzt.

Wilhelm Heitmeyer, Professor für Sozialisation, in: Blickpunkt Bundestag, 5/2002, S. 3.
  • Kleidung: Häufig waren die Täter in einem martialischen schwar­zen Outfit gekleidet und trugen Masken. Diese Maskierung dient nicht nur der Anonymisierung, sondern oft auch der Identifika­tion mit Rächerfiguren und auch dem Ausdruck der eigenen Macht.
  • Planung: Die Tat wurde lange vor der Durchführung detailliert geplant und oft regelrecht inszeniert.
  • Andeutungen: Die Täter haben kurz vor der Durchführung ihrer Pläne Andeutungen oder Drohungen zur Umsetzung ihrer Tat gemacht, diese wurden jedoch vom Umfeld entweder nicht erkannt oder nicht ernst genommen.
  • Tatanlass: Als Tatanlass werden regelmäßige Kränkungen, Demütigungen, Verluste gesehen, die von den Tätern als schwerwie­gend wahrgenommen werden.
  • Nachahmer: Es zeigte sich, dass Gewalttaten, die den Täter durch eine allgegenwärtige Medienberichterstattung prominent machen, bei psychisch instabilen jungen Menschen den Wunsch zur Nachahmung auslösen.

Nicht verstehen Vorsicht ist bei Spekulationen über die Motivlagen der Täter geboten. Außer den äußerlichen Tatabläufen und sehr wenigen Selbstäußerungen stehen dafür keine verlässlichen Informa­tionen zur Verfügung. Ganz offensichtlich folgt die Logik von Amokläufen einem anderen Muster als die in Form von Abschiedsbriefen zumindest ansatzweise erläuterte Selbsttötung. Amokläufe von Jugendlichen erzeugen deshalb neben dem Entsetzen der Sprachlosigkeit und der Trauer über die Opfer immer auch Erklärungsnöte, weil man die Handlung nicht nachvollziehen/verstehen kann.
Deutsches Jugendinstitut: Der Amoklauf von Winnenden. Arbeitspapier, 18.3.2009.

Schulmassaker in Deutschland

In den letzten Jahren haben an deutschen Schulen mehrere schwere Amokläufe stattgefunden. Erklärungen und Ursachenerforschung sind schwierig, und die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Gewalt bildet fast immer den Endpunkt eines Weges, der bei dem Täter durch eine schrittweise Verengung der Perspektiven gekennzeichnet ist, bis nur noch die finale Tat als denkbare Option erscheint.

Der jugendliche Amokläufer fühlt sich ausgegrenzt und verhöhnt von einer ihn zurückweisenden Welt, in der er seine eigene Bedeutung und Macht schließlich in einem gewaltvollen Finale unter Beweis stellen will.

  • Meissen, 9.11.1999: Der 15-jährige Andreas S. stürmt maskiert ins „Franziskaneum“, das städtische Gymnasium. In seiner Klasse stürzt er sich auf die Deutsch- und Geschichtslehrerin Sigrun L. und sticht 22-mal auf sie ein. Die 44-Jährige verblutet. Andreas S. gibt als Motiv „Hass“ an. Er wird zu siebeneinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt.
  • Brannenburg, 16.3.2000: Der 16-jährige Schüler Michael F. schießt im Treppenhaus des Schloss-Internats im oberbayerischen Brannenburg auf den Schulleiter Reiner G. und fügt sich anschließend selbst schwere Verletzungen zu. Der 57-jährige Pädagoge stirbt später an seinen Kopfverletzungen. Michael F. liegt seit der Tat im Wachkoma.
  • Freising, 19.2.2002: In Eching bei München erschießt der 22-jährige Adam L. seinen ehemaligen Chef und einen Vorarbeiter.
  • Anschließend fährt er nach Freising und wirft zwei Rohrbomben ins Rektorat der Wirtschaftsschule. Er tötet den Direktor mit drei Schüssen. Auf dem Flur begegnet er einem Religionslehrer, dem er durch die Wange schießt. Dann begeht L. Selbstmord.
  • Erfurt, 26.4.2002: Der 19-jährige Robert S. erschießt 12 Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und einen Polizisten und begeht dann Selbstmord.
  • Waiblingen, 18.10.2002: Der 16-jährige Marcel K. nimmt zehn Schüler und eine Lehrerin als Geiseln. Er ist mit einer schusssicheren Weste, einer Luftpistole und Bombenattrappen ausgerüstet. Nach intensiven Verhandlungen lässt er die Geiseln frei und ergibt sich.
  • Coburg, 2.7.2003: Ein 16-jähriger Schüler schießt eine Lehrerin an und tötet sich anschließend selbst. Die Waffe stammt aus dem Waffentresor des Vaters.
  • Emsdetten, 20.11.2006: Ein bewaffneter 18-Jähriger stürmt maskiert und bewaffnet in seine ehemalige Schule, schießt wahllos um sich und wirft Rauchbomben. Elf Kinder werden durch Schüsse verletzt. Danach erschießt er sich selbst.
  • Winnenden, 11.3.2009: Der 17-jährige ehemalige Schüler Tim K. dringt in die Albertville Realschule ein, erschießt neun Schülerinnen und Schüler und drei Lehrkräfte. Auf der Flucht erschießt er drei weitere Personen, bevor er sich selbst umbringt. 15 Personen werden z.T. schwer verletzt.
Vgl. Frankfurter Rundschau, 24.4.2007, S. 25; Stern, 20/2002, S. 44 f.; Die Welt, 12.3.2009.

Nachahmungstäter Folgende Faktoren der Berichterstattung über Selbstmorde weisen eine besondere Bedeutung für Nachahmungstaten auf:

  • Vereinfachte Erklärungen,
  • eine Sinnzuweisung des Selbstmordes,
  • die Darstellung konkreter Selbstmordmethoden,
  • die Beschreibung von positiven Eigenschaften des Toten.

Studien weisen darauf hin, dass dieser Nachahmungseffekt auch bei Schulmas­sakern auftritt. Daher ist die Medienberichterstattung bei School Shootings zu überdenken.
Vgl. Frank J. Robertz/Rubens Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und
schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007, S. 98 f.

Warum Schule?
Die Wahl des Schauplatzes für die Inszenierung des Abgangs fällt auf den letzten Arbeitsplatz oder eben die Schule, die als Symbol des misslungenen Lebens und als der Ort erscheint, an dem alles Unglück seinen Anfang nahm. Im Amoklauf werden die Kindheitstraumata in den Triumph des Erwachsenen verwandelt und all die Niederlagen und die Ohnmacht von einst verblassen angesichts der machtvollen finalen Demütigung der Demütiger.

Warum beschränkt sich der Racheimpuls nicht auf Lehrer, sondern schließt Schüler mit ein? Sie symbolisieren eine in die Zukunft weisende Lebendigkeit, die, weil sie der Amokläufer nicht finden konnte, nun keinem zuteil weden soll. Das Glück, das Kinder in guten Augenblicken umgibt, kann in dem zu Lebzeiten bereits Gestorbenen und vom Leben Enttäuschten, der sich zum Anwalt seiner Zerstörung gemacht hat, einen unbändigen Vernichtungsimpuls hervorkitzeln. Sein Hass entlädt sich gegen jene, die ihn an versunkene eigene Glücksversprechen erinnern und schwach und ohne Schutz sind.

Götz Eisenberg: Tatort Schule. In: Frankfurter Rundschau, 24.4.2007, S. 25.

Kann man Amokläufe verhindern?

Die Meinungen darüber, ob man Amokläufe verhindern könne, gehen auseinander. Verschiedene Fachleute vertreten die Ansicht, dass derartige Ereignisse eher schicksalhaften Charakter hätten, dass man sie weder verhindern oder „vorausahnen“ könne. Andere weisen darauf hin, dass es im Vorfeld solcher Ereignisse immer auch Hinweise und Symptome gäbe, die als Hilferufe zu verste­hen seien, die zeigten, dass jemand mit seinen Problemen nicht zurecht komme.

Begreift man schwere Gewalttaten und Amokläufe nicht als Schick- salsschläge, sondern als krisenhafte Entwicklungen, so gibt es vielfältige Möglichkeiten auf Warnsignale zu reagieren. Hierzu ge­hören u.a. Gewaltdrohungen (mit konkreten Zeit und Ortsangaben), Suizidäußerungen, Zugang oder Besitz von Waffen, Rückzug und Isolation sowie das Gefühl der Ausweglosigkeit. Das Problem der Erkennung solcher Frühwarnsignale liegt jedoch darin, dass sie oft zu wenig trennscharf sind und dadurch auf viele Jugendliche zu­treffen und somit die Gefahr besteht, ein Klima von Verdächtigungen zu schaffen. Solche Hinweise, die sich nach Amokläufen immer rekonstruieren lassen und auch immer vorhanden sind, vor einer Tat rechtzeitig zu erkennen, ist das Ziel des Berliner Leaking­Projektes. „Beim Leaking lässt der Täter seine Tatfantasien oder Pläne im Vorfeld ‚durchsickern‘. Somit bietet dieses Phänomen einen Anhaltspunkt für ein präventives Eingreifen“ (www.leaking-projekt.de).

Die Begleitumstände Amok ist ein Phänomen jenseits von Krankheit, Kriminalität und Kontrolle. Die Begleitumstände des modernen Amoklaufs treffen auf zu viele zu, um für Präventionsansätze tauglich zu sein: Man(n) liebt Waffen oder virtuellen Waffenersatz, trainiert mit ihnen, man(n) übt sich in der Entmenschlichung (Dehumanisierung) der vermeintlichen Gegner, man(n) teilt sich niemandem mit. Kein Staat, keine Polizei kann das kontrollieren. Joachim Kersten:
Jugendgewalt und Gesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B44/2002, S. 20.

Leaking? „Leaking“ kann auf unterschiedliche Art erfolgen:

1. direkt

  • mündlich (z.B. Ankündigungen/Drohungen am Telefon oder in einem direkten Gespräch);
  • schriftlich (per SMS, Email, Brief, in einem Aufsatz oder auf Internetseiten);
  • zeichnerisch (z.B. Bilder, Comics, Graffitis).

2. indirekt = auffällige Verhaltensweisen eines Schülers in der letzten Zeit:

  • übermäßiges Interesse an Waffen, Gewalt, Krieg; ständiger Bezug auf diese Themen;
  • Sammeln von Material über School Shootings, Amoktaten, Massenmörder etc.;
  • demonstratives Tragen von Tarnkleidung;
  • Suizidversuche und -drohungen.

www.leaking-projekt.de/index.php?id=10

Im Bereich der primären Prävention gilt es Verantwortlichkeiten in vielfältigen Bereichen zu erkennen und wahrzunehmen:

  • Eltern: Welchen Erwartungsdruck vermitteln Eltern? Bleibt Zeit für Auseinandersetzung und Anerkennung?
  • Freunde und Bekannte: Ist genügend Neugier vorhanden, den anderen auch als Mensch kennenzulernen? Wird vom anderen Rechenschaft für sein Verhalten verlangt? Wird eine gewisse Ver- antwortung für sein „Wohlergehen“ empfunden?
  • Schule: Werden neben Leistung und Noten auch Mitmenschlich­keit und Solidarität vermittelt und gelebt? Werden Alarmsignale erkannt? Werden Konfliktlösungsmöglichkeiten eingeübt, Schwächen nicht ausgenützt und Stärken gefördert?
  • Medien: Werden alle Möglichkeiten der Unterbindung von Gewalt verherrlichenden Medien ausgeschöpft? Wird die Produktion und der Vertrieb solcher Medien auf ihre Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit geprüft?
  • Waffen: Wie kann verhindert werden, dass Waffen problemlos legal (und illegal) zu beschaffen sind? Wie kann sichergestellt werden, dass Waffen „sicher“ aufbewahrt werden?
  • Gesellschaft: Wie kann eine Kultur des Friedens und der Anerkennung entwickelt werden, die Gewalt auf allen Ebenen tabu­isiert, die auch den Schwächeren eine erstrebenswerte Zukunft und einen Platz in der Gesellschaft ermöglicht?
  • Politik: Wie kann erreicht werden, dass Politik sich stärker um die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen

Waffen Ausgerechnet Deutschland, das sich gern als friedliche Nation bezeichnet, ist in Wahrheit ein Land unter Waffen, mit 8 bis 10 Millio­nen legalen Feuerwaffen und mindestens 20 Millionen illegalen. Die Faszination Flinte ist kaum geringer als die Faszination Auto. Und so wie das eine an den Urinstinkt anknüpft, jederzeit flüchten zu können, so das andere an den, töten zu können, um zu überleben.
Der Spiegel, 13/2009, S. 42.

Warnsignale erkennen, Normen verdeutlichen, zur Seite stehen
Es kommt darauf an, die Warnsignale zu erkennen und den Jugendlichen dann auf dreifache Weise zu begegnen. Weitere Informationen müssen gesammelt werden, Normen des Zusammenlebens müssen verdeutlicht werden, vor allem aber muss den Jugendlichen klargemacht werden, dass ihre im Vorfeld subjektiv unlösbar erscheinenden Probleme nicht unlösbar sind. Sie müssen begreifen, dass ihnen von diesem Zeitpunkt an Erwachsene zur Seite stehen – nicht um zu strafen, sondern um auch Hinweise zu geben auf die Lösung der immer gleichen Kernprobleme: Wege zu Anerkennung, Kontroll-Erleben, soziale Bezugspersonen, Einbindung in die Gesellschaft und Umgang mit Kränkungen. Schwere, zielgerichtete Gewalt ist immer die allerletzte Option für diese Jugendlichen, also muss ihnen eine Alternative aufgezeigt werden. Das können Schulpsychologen, jedoch auch Lehrer tun, die das Wohlergehen ihrer Schützlinge ernst nehmen.
Frank Robertz: Die Statistik des Leids. Nach dem Amoklauf in Winnenden. Süddeutsche Zeitung, 16.3.2009.
www.sueddeutsche.de/,tt5m1/panorama/165/461787/text/

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