Zivilcourage lernen

Zivilcourage lernen

Wichtige Voraussetzungen für zivilcouragiertes Handeln sind die Entwicklung von Empathie sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zum kritischen Umgang mit Autoritäten. Nur wer fähig und bereit ist, sich in die Situation des anderen einzufühlen, der hat möglicherweise den Impuls zu helfen (vgl. Ostermann 2000). Empathie ist also die motivationale Basis der Hilfsbereitschaft.

Für die Entwicklung von zivilcouragiertem Verhalten spielen desweiteren weniger moralische Appelle als vielmehr Lebenssituationen eine wichtige Rolle (vgl. Staub 1981, S. 53 ff). Es ist kaum möglich, eine „moralische Haltung“ durch die Diskussion moralischer Fragen und Konflikte zu fördern, wenn jemand in einer feindlichen und bedrohlichen Umwelt lebt, welche Angst vor anderen Leuten, Feindseligkeit und eine ständige Sorge um das physische und psychische überleben bewirkt.

Empathie Empathie hat drei Aspekte.

  • die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen zu verstehen;
  • die Fähigkeit, die Perspektive und Rolle einer anderen Person zu übernehmen;
  • die Bereitschaft, auf diese Situation des anderen emotional zu reagieren.

änne Ostermann: Empathie und prosoziales Verhalten in einer Ellbogengesellschaft. In: HSFK-Standpunkte, Nr.4/2000.

Verhaltensziele

Lernbereich Alltag

Die Familie spielt bei der Entwicklung von Zivilcourage eine wichtige Rolle. Ein fürsorgliches und liebevolles Familienklima, verbunden mit Werten wie Nächstenliebe, Mitleid, Liebe zur Natur, Fürsorge für andere und Ehrlichkeit stellt die emotionale Grundlage von Zivilcourage dar. Diese Eigenschaften werden nicht gepredigt, sondern von den Eltern vorgelebt (vgl. Gugel 2003, S. 191 ff.). Zivilcourage im Alltag zu lernen, bedeutet also zunächst die Entwicklung von Empathie, Ich-Stärke und Selbstbewusstsein, um auf der Beziehungsebene befriedigend kommunizieren zu lernen, um eigene Vorurteile erkennen und bearbeiten zu können, aber auch um am politischen Geschehen so teilzuhaben, dass ein Engagement in Richtung Gewaltminimierung und Partizipation möglich wird. Dies setzt die Fähigkeit, sich einzumischen, voraus. Diese Einmischung von unten gelingt am besten, wenn sie zunächst in kleinen Schritten vorgenommen wird, wenn positive Vorbilder verfügbar sind und eine ermutigende Resonanz auf das gezeigte Verhalten erfolgt.

Ein wesentlicher Punkt dieser Einmischung besteht darin, wenn nötig, den Gehorsam zu verweigern. Gehorsam war und ist eine der Triebfedern der Zerstörungsmentalität, denn Gehorsam wird subjektiv immer mit der Delegation von Verantwortung an den/die Vorgesetzten (oder gar an Strukturen) gleichgesetzt.

Die Experimente zum Autoritätsgehorsam zeigen, dass unter bestimmten Umständen ein Großteil der Menschen offensichtlich bereit ist, Gewalt anzuwenden. Sie zeigen aber gleichzeitig auch Möglichkeiten der Gegenwehr auf: direkter Kontakt zum Opfer, das Infragestellen der Autorität des Versuchsleiters sowie die Anwesenheit einer dritten Person, die Bedenken gegen das Vorgehen äußerte, verringerten die Gehorsamsbereitschaft entscheidend (Milgram 2004; Welzer 2005). In Bezug auf Erziehung bedeutet dies, anders mit Widerspruch, Einwänden und Gehorsamsverweigerung bei Kindern und Jugendlichen umzugehen als dies häufig geschieht. Denn diese Verhaltensweisen können eben nicht nur als „Trotz“ oder „Ungezogenheit“ gedeutet werden, sondern sind auch Ausdruck einer sich entwickelnden Selbständigkeit sowie von Auseinandersetzung mit Autoritäten.Von großer Bedeutung für alle Lernprozesse ist die Rolle von glaubwürdigen Vorbildern. Sie ermöglichen durch Prozesse der Auseinandersetzung, der Identifizierung und Abgrenzung eine Entwicklung von Sensibilität, Achtung und Empathie. Zivilcourage setzt die übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln voraus.

Auseinandersetzung mit Autoritäten

  • Weshalb ist es für mich so bedeutsam, die Zustimmung der Autorität zu erlangen?
  • Wie kommt es, dass mein Selbstbild wankt, wenn mich ein Vorgesetzter kritisiert?
  • Bin ich tatsächlich weniger wert, wenn die „Autorität“ an mir etwas auszusetzen hat?
  • Kann ich die Kritik akzep­tieren oder zurückweisen – ohne gleich mein Selbst infrage zu stellen?
  • Sehe ich die „Autorität“ nur in den anderen und erkenne nicht auch die Autorität in mir selbst?
  • Welches Selbstbild möchte ich verwirklichen?
  • Welche Werte sind für mein Leben bedeutsam?

Kurt Singer: Der Mut, aus der Reihe zu tanzen. In: Psychologie heute, 7/2003, S. 65.

Die „Sprache des Herzens“ ist unsere einzige Chance
Wer als Kind echte Zuwendung erfährt – und sei es unter ärmsten Verhältnissen – verfügt später über die Stärke, auch seinen Mitmenschen und Kindern mit Empathie und Mitgefühl zu begegnen. Dann bleiben sie Menschen, die keine Angst davor haben, auf das zu hören, was ihr Herz ihnen sagt. Mit einer eigenen Identität als Kern der Persönlichkeit und nicht dem, was der englische Dichter Edward Young schon im 18. Jahrhundert befürchtete: Wir werden als Originale geboren, aber sterben als Kopien.

Arno Gruen: Vergesst die Liebe nicht. In: Stern, 43/2003, S. 196.

Zivilcourage in der Schule lernen

In der Regel entwickelt kaum jemand Bürgermut durch die Schule, sondern trotz der Schule, meint der Psychotherapeut und Hochschullehrer Kurt Singer. Kritik, die unerwünscht ist, erwartetes konformes Verhalten verbunden mit Notendruck fördern eher Anpassung als Widerspruch und das Vertreten einer eigenen Meinung. Schülerinnen und Schüler müssen jedoch ermutigt werden, kritisch ihre Meinung zu äußern (vgl. Singer 1995, S. 12).

Die Schule hat viele Möglichkeiten, Zivilcourage zu fördern. Hierzu gehören Lernformen, die ein sozialreflexives Lernen ermöglichen, die die eigene Meinung herausfordern und Gruppendruck entgegen­wirken. Einflussmöglichkeiten und Partizipation, verbunden mit der Transparenz von Machtverhältnissen und konstruktiver Konfliktaustragung, tragen dazu bei, dass unterschiedliche Interessen artikuliert werden können. Vorbilder und die Belohnung von sozialem Mut fördern soziale Handungskompetenzen (vgl. Meyer/ Hermann 2000, S. 12). Eine zentrale Aufgabe von Schule ist in diesem Prozess auch die kritische Vermittlung von Wissen, verbunden mit einer Verantwortungsethik, die auch die Folgen des eigenen (und fremden) Tuns im Blick hat und so das Gewissen schärft.

Was Zivilcourage oft verhindert

  • Angst (z.B. vor körper­licher Gewalt).
  • Das Gefühl der Unterlegenheit (hier kann ich ja nichts machen ...).
  • Das Gefühl der Gleichgültigkeit (was geht das mich an ...?).
  • Die Meinung, dass das Opfer selbst schuld sei.
  • Die Meinung, dass andere für die Lösung verantwortlich seien.
  • Die Meinung, dass der Konflikt ein Privatproblem der Betroffenen sei.

Trainings

Die Altruismus-Forschung weist darauf hin, dass Helfen in Not- und Problemsituationen wesentlich von Lernerfahrungen abhängt. Durch spezifische Trainings können Kompetenzen erworben werden, die sich auf die Entschlusssicherheit und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, positiv auswirken (vgl. Bierhoff 2004, S. 67).

Trainings ermöglichen einen spielerischen Umgang mit Ernstsituationen, der ansonsten kaum möglich ist. Sie bieten einen Zugang zu eigenen Aggressionen und ängsten, und sie erlauben ein Erkennen der individuellen Reizschwelle zum Handeln (Gugel/Frech 2004, S. 200 f.).

Solche Trainings vermitteln weniger „Wissen“ als vielmehr Aus­einandersetzung mit persönlichen Erlebnis- und Verhaltensweisen in konkreten Situationen und ermöglichen die gemeinsame Arbeit an hilfreichen Haltungen und Handlungsweisen, verbunden mit der Konfrontation mit professionellem Knowhow. Deshalb spielt die Auseinandersetzung mit den eigenen ängsten eine wichtige Rolle bei Trainings.

Als Modellvorstellung gehen solche Trainings davon aus, dass eine Ausbildung das Kompetenzgefühl stärkt und dadurch die eigene Entschlusssicherheit und die Bereitschaft zur Verantwortungsüber­nahme erhöht. Die dadurch entstehende Bereitschaft, Hilfe zu leisten, führt dann in entsprechenden Situationen zu Hilfehandlungen.

Ein erster Punkt ist deshalb die Schulung der Wahrnehmung und die Sensibilisierung für Not- und Gefahrensituationen, aber auch für Diskriminierungen und Beleidigungen. Hinzu müssen Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel kommen, um Handeln zu ermöglichen. Wissen über mögliche, sinnvolle und empfohlene Verhaltensweisen erleichtert es, sich in Situationen, in denen ein mutiges Eingreifen nötig ist, richtig zu verhalten.

Das Prinzip „Auge um Auge“ führt nur dazu, dass die ganze Welt erblindet.
Mahatma Gandhi

Die Freiheit der Meinung besteht darin, das zu sagen, was die Leute nicht gerne hören.
George Orwell

Ohne Unterschied macht Gleichheit keinen Spaß.
Dieter Hildebrandt

Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.
Franca Magnani

Nichts ist schwieriger und nichs erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!
Kurt Tucholsky

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Chancen und Hindernisse für Zivilcourage, so Gerd Meyer und Angela Hermann (2000, S. 11), werden auch von politischen Rahmenbedingungen und der politischen Kultur unserer Gesellschaft bestimmt. Hierzu gehören u.a. moralische überzeugungen und Vorstellungen von Gerechtigkeit, Konformitätsdruck und Autoritätsbeziehungen an den Schulen und vor allem am Arbeitsplatz, die prägende Kraft von Gruppen und Sozialisationsinstanzen.

Wir finden in unserer Gesellschaft beide Verhaltensweisen: den brutalen Egoismus, der sich kalt über die Interessen anderer hinwegsetzt und altruistisches Verhalten, das bis zur Selbstaufopferung gehen kann. Offensichtlich werden auch beide Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft prämiert und verstärkt: die egoistischen durch einen raschen, aber vielleicht nicht dauerhaften Erfolg, die prosozialen durch gesellschaftliche Anerkennung und langfristigen Erfolg (Ostermann 2000).

Deshalb ist es auch unter didaktischen Gesichtspunkten sinnvoll, beiden Strängen nachzugehen: Was fördert, was behindert das eine und das andere?

Lernbereiche bei Trainings

  • Wann und wo handeln/eingreifen?

– Problemsituationen erkennen: wahrnehmen, interpretieren, handeln.
– Das Gewissen schärfen.
– Politisches Urteilsvermögen fördern.

  • Zivilcourage findet öffentlich statt

– Selbstsicherheit bei öffentlichen Auftritten.
– überwindung von Angst.

  • Zivilcourage im Kontext einer Konfliktdynamik

– Grundkenntnisse über Eskalation und Deeskalation von Konflikten.
– Kenntnisse über hilfreiches Handeln in Konflikten.

  • Zivilcourage als verbales Eingreifen: sich wehren, sich für andere einsetzen

– Kommunikationsfähigkeit.
– Autoritätsangst überwinden, Selbstsicherheit entwickeln.

  • Zivilcourage als Eingreifen in Bedrohungs- und Gewaltsituationen

– Dynamik von Gewaltsituationen kennen.
– Mobilisierung von Hilfe.
– Deeskalationsstrategien.
– Rollen von Tätern, Opfern, Zuschauern.

  • Wissen, was Hilfe ermöglicht bzw. behindert

– Diffusion von Verantwortung/übernahme von Verantwortung. – Negative Vorbilder (Passivität)/Positive Vorbilder, Eingreifen. – Kosten-Nutzen-Abwägungen.
– Angst vor der Blamage.
– Erkennen von ähnlichkeiten mit Opfern: Perspektivenwechsel. – Fremdverschulden/Eigenverschulden: Empathie.
– Autoritätsgehorsam/eigenverantwortlich handelnde Persönlichkeit.

  • Konsequenzen tragen

– Sich über mögliche Folgen klar sein.
– Sich klar werden, welche negativen Konsequenzen man (noch) in Kauf nehmen würde.
– Umgang mit sozialer Isolierung.
– Quellen von Motivation.
– Rückhalt in sozialen Gruppen.

Ein hoher Stellenwert? In einer Umfrage des Marburger Psychologen Ulrich Wagner gaben 15 Prozent der Befragten an, schon einmal Zeuge eines verbalen oder physischen übergriffs auf Angehörige einer ethnischen Minderheit gewesen zu sein – aber nur gut ein Drittel hatte versucht, dem Attackierten zu helfen. Wenn man nach der inneren Haltung fragt, bekennt sich aber ein wesentlich höherer Anteil der Bevölkerung zu den Menschenrechten und plädiert dafür, Schwächere zu schützen. Zivilcourage hat in Deutschland einen hohen Stellenwert – theoretisch.

Veronika Brandstätter. In: Berliner Zeitung, 10.3.2008.

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