Solidarisches, helfendes Verhalten bezieht sich sowohl auf Situationen, in denen unmittelbare Hilfeleistungen notwendig sind, wie auch auf lebensfördernde, erst langfristig wirkende Verhaltensweisen. In der sozialpsychologischen Forschung werden häufig drei Klassen von Motiven unterschieden, die für solidarisches Verhalten förderlich sind (vgl. Staub 1981, S. 53 ff.):
- Anerkennung: Man kann durch den Wunsch motiviert werden, sich selber Gewinn zu verschaffen. Man hilft anderen, mit dem (unbewussten) Ziel, soziale Anerkennung zu erhalten oder um Ablehnung bzw. Kritik wegen unterlassener Hilfe zu vermeiden.
- Überzeugung: Die Beachtung von Werten, überzeugungen und Normen, die internalisiert, zu eigen gemacht bzw. durch Erfahrung entwickelt wurden, führen zu solidarischem Verhalten. Die Einhaltung eigener Werte, überzeugungen und Normen kann Selbstbelohnung, positive Gefühle und eine erhöhte Selbstachtung zur Folge haben, wohingegen eine Abweichung von den eigenen Werten etc. zu Selbstbestrafung, Angst- und Schuldgefühlen sowie zu verminderter Selbstachtung führen kann.
- Empathie: Das Mitfühlen bzw. das Miterleben der Gefühle eines anderen Menschen kann zu solidarischem Verhalten motivieren.
- Je eindeutiger die Situation, dass jemand Hilfe benötigt, desto mehr Hilfe wird die Folge sein. Fehlende Eindeutigkeit führt häufig zu der überlegung, dass irgendwelche helfenden Maßnahmen unangemessen oder lächerlich erscheinen könnten.
- Je stärker die Hilfsbedürftigkeit, desto mehr Hilfe wird der bzw. die Betreffende erfahren. Dies gilt nicht, wenn der Aufwand von der helfenden Person als zu groß wahrgenommen wird oder die mit der Hilfe verbundene potenzielle Gefahr nicht mehr kalkulierbar ist.
- Je deutlicher die Umwelt einer bestimmten Person die Verantwortung aufbürdet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person auch Hilfe leistet. Die Verantwortung konzentriert sich auf eine Person, wenn sie als einzige Zeugin der Hilfsbedürftigkeit eines anderen wird; wenn sie die einzige ist, die helfen kann, auch wenn sie nicht unbedingt die einzige Zeugin ist; wenn sie über besondere Fähigkeiten verfügt, die für die Hilfe erforderlich sind; wenn sie zu der hilfsbedürftigen Person in einer besonderen Beziehung steht oder wenn ihr auf Grund einer Führungsposition quasi automatisch die Verantwortung für Hilfeleistung zukommt.
Eine Tugend Zivilcourage ist keine „Technik“ oder „Methode“, sondern eine Tugend. Deshalb ist es nicht einfach, sozialen Mut zu entwickeln. Immer geht es darum, sich mit den moralischen Werten auseinander zu setzen, die der Einzelne verwirklichen will.
Kurt Singer: Der Mut, aus der Reihe zu tanzen. In: Psychologie heute, 7/2003, S. 65.
Kosten-Nutzen-Erwägungen
Entscheidend für das Eingreifen oder Nicht-Eingreifen in einer Notsituation ist die Höhe der „Kosten“. Als solche „Kosten“ kommen in Frage:
- erstens die „Kosten“ der Hilfe, die sich auf die Gefahren und den Aufwand beziehen, die mit einem Eingreifen einhergehen können: z.B. die Gefahr der eigenen Verletzung, Zeitverlust, Blamage durch nicht sachgerechtes Handeln; aber auch ärger mit Behörden oder Unannehmlichkeiten, die grundsätzlich jede Einmischung in die Angelegenheiten anderer Menschen einbringen kann;
- zweitens die „Kosten“ der Nichthilfe, wie z.B. Gewissensbisse, moralische Selbstvorwürfe, geschwächtes Selbstwertgefühl oder eine Strafanzeige nach § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung); damit ist gleichzeitig der „Nutzen“ der Hilfe verbunden, der in der Vermeidung von Gewissensbissen, Selbstvorwürfen und einer eventuellen Strafanzeige besteht.
Bei der „Kosten-Nutzen“-überlegung der Zuschauerin bzw. des Zuschauers einer Notsituation handelt es sich aber in der Regel nicht um bewusste logische Abwägungen.
Hans-Dieter Schwind u.a.: Alle gaffen ... keiner hilft. Unterlassene Hilfeleistung bei Unfällen und Straftaten. Heidelberg 1998, S. 33.- Je mehr Personen anwesend sind, desto mehr geht die individuelle Wahrscheinlichkeit zu helfen zurück (geteilte Verantwortung).
- Je mehr räumliche Nähe vorhanden ist und je länger die Konfrontation mit einer leidenden Person dauert, desto stärker ist der Aufforderungscharakter zu helfen, es sei denn, man kann sich leicht der Gegenwart der leidenden Person entziehen.
- Je mehr Entscheidungskraft und je größer die Initiativen sind, die von den helfenden Personen verlangt werden, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit von Hilfe ausfallen.
- Je mehr Mühe, Zeit, Energie oder auch Risiko von der Helferin/ dem Helfer gefordert werden, um so weniger kann man normalerweise Hilfe erwarten.
- Wenn die zu leistende Hilfe unangemessen bzw. sozial nicht akzeptabel erscheint, können situationsspezifische Regeln existieren, die helfende Reaktionen hemmen, obwohl man das Leiden einer anderen Person wahrnimmt (beispielsweise, dass es unangemessen ist, in ein fremdes Zimmer zu gehen).
- Eine enge Beziehung oder das Wissen, dass man der gleichen Gruppe angehört, können zur Identifikation mit einer anderen Person führen, wodurch mit größerer Wahrscheinlichkeit Mitgefühl und andere Motive, die zu Hilfe beitragen, geweckt werden. Feindselige Einstellungen verringern die Wahrscheinlichkeit von Hilfe.
- Unmittelbar vorausgehende positive oder negative Erfahrungen bewirken unterschiedliche psychische Zustände, die sich auf helfendes Verhalten auswirken: Wohlbefinden erhöht in der Regel die Wahrscheinlichkeit, anderen zu helfen, negative Zustände verringern sie zuweilen.
- Je höher die Bevölkerungsdichte, desto weniger kennen sich die Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadtteils und desto geringer ist daher die informelle soziale Kontrolle. Deshalb wird in Großstädten tendenziell seltener geholfen als auf dem „flachen Land“.
Zusammenhänge
- Der mangelnde zivile Mut hängt eng mit der Erziehung zusammen. Die meisten Heranwachsenden wurden mehr zu Autoritätsgehorsam erzogen als zu Widerspruchsmut, der von Werten und Idealen erfüllt ist.
- Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wiegt oft schwerer als die eigene Meinung. Menschen neigen dazu, sich dem Gruppendruck zu beugen und sich der Gruppenmehrheit anzuschließen.
- Der Autoritätsgehorsam, also die freiwillige Unterwerfung unter vermeintliche oder tatsächliche Autoritäten geht bei vielen so weit, dass andere ohne Not auf Anweisung gequält werden.
Ein wichtiges Element scheint in diesem Zusammenhang die persönliche Bestätigung durch soziale Anerkennung des eigenen sozialen Umfeldes zu sein. Untersuchungen zeigen, dass sozial engagierte Personen oft psychisch gesünder sind und über eine robustere körperliche Verfassung verfügen. Ihr Engagement führt zu einer Verbesserung des Selbstwertgefühls, zu größerem Verständnis für andere und zu einer stärkeren Bindung an eine Gemeinschaft.