Gewalt gegen Kinder kann verstanden werden als „eine – bewusste oder unbewusste – gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder gar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht“ (Bast 1990).
Der Deutsche Kinderschutzbund (2012, S. 6) definiert Gewalt gegen Kinder als Übergriff, der die Begriffe „Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung und Verwahrlosung“ vereine. Obwohl verschiedene Begrifflichkeiten verwendet werden, geht es im Kern immer um die bereits 1998 im „Hessischen Leitfaden für Arztpraxen zu Gewalt gegen Kinder“ dargestellten Formen der körperlichen Gewalt, seelischen Gewalt, Vernachlässigung und sexualisierten Gewalt.
Risiken
Kinder mit geistigen und/ oder körperlichen Beeinträchtigungen haben ein dreimal so hohes Risiko misshandelt zu werden wie andere Kinder.(Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2009, S. 89)
Körperliche Gewalt
Körperliche Gewalt wird von Erwachsenen an Mädchen und Jungen in vielen verschiedenen Formen ausgeübt (Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit 2007, S. 11 ff.): „Verbreitet sind Prügel, Schläge mit Gegenständen, Kneifen, Beißen, Treten und Schütteln des Kindes. Daneben werden Stichverletzungen, Vergiftungen, Würgen und Ersticken sowie thermische Schäden (Verbrennen, Verbrühen, Unterkühlen) bei Kindern beobachtet. Das Kind kann durch diese Verletzungen bleibende körperliche, geistige und seelische Schäden davontragen oder in Extremfällen daran sterben.“ Schwere physische Misshandlungen und deren Folgen betreffen vor allem Säuglinge und Kleinkindern. Dies sind in 95 % aller Fälle Wiederholungs- bzw. Vielfachtaten, also keine Affekthandlungen.
Körperliche Gewalt kommt vor allem im Bereich der Erziehung (auch in Form von Strafe) vor und wird von nahezu 50 % der Eltern angewendet (Forsa 2011). Schwere Misshandlungen werden von ca. 10 % der Eltern für die letzten zwölf Monate berichtet. 2011 wurden bundesweit 4.100 Fälle von schwerer körperlicher Misshandlung registriert. Laut Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes wurden 2011 146 Kinder durch einen tätlichen Angriff getötet, 114 davon waren jünger als sechs Jahre (Focus 29.5.2012).
Umfang
„In der Gewaltstudie 2013 geben fast ein Viertel (22,3 %) der befragten jungen Menschen an, dass sie zumindest manchmal von Erwachsenen geschlagen werden: 28 % davon Kinder ab sechs Jahren, 16,6 % Jugendliche ab zwölf Jahren. Auffällig ist, dass Gewalt ein in allen Schichten verbreitetes Phänomen ist. Kinder in prekärer Lage werden jedoch häufiger und offenbar auch in höherer Intensität geschlagen als Kinder mit anderem soziökonomischen Hinter-grund.“ (Ziegler 2013, S. 2)
Seelische Gewalt
Seelische oder psychische Gewalt sind „Haltungen, Gefühle und Aktionen, die zu einer schweren Beeinträchtigung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind führen und dessen geistig-seelische Entwicklung zu einer autonomen und lebensbejahenden Persönlichkeit behindert“ (Eggers 1994). Die Schäden für die Mädchen und Jungen sind oft folgenschwer und daher mit denen der körperlichen Misshandlung zu vergleichen.
Seelische Gewalt liegt z. B. dann vor, wenn dem Kind ein Gefühl der Ablehnung vermittelt wird. Für das Kind wird es besonders schwierig, ein stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen. Diese Ablehnung wird ausgedrückt, indem das Kind gedemütigt und herabgesetzt, durch unangemessene Schulleistungen oder sportliche und künstlerische Anforderungen überfordert oder durch Liebesentzug, Zurücksetzung, Gleichgültigkeit und Ignorieren bestraft wird.
Schwerwiegend sind ebenfalls Akte, die dem Kind Angst machen: Einsperren in einen dunklen Raum, Alleinlassen, Isolation, Drohungen oder Anbinden. Vielfach beschimpfen Eltern ihre Kinder in einem extrem überzogenen Maß oder brechen in Wutanfälle aus, die für das Kind nicht nachvollziehbar sind.
Mädchen und Jungen werden auch für die Bedürfnisse der Eltern missbraucht, indem sie gezwungen werden, sich elterliche Streitereien anzuhören, oder indem sie in Beziehungskonflikten instrumentalisiert werden und dadurch in einen Loyalitätskonflikt kommen. Auch überbehütendes und überfürsorgliches Verhalten kann zur seelischen Gewalt werden, wenn es Ohnmacht, Wertlosigkeit und Abhängigkeit vermittelt (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit 2007, S. 11 f.).
Keine verlässlichen Datenquellen
Deutschland verfügt über keine verwertbaren Datenquellen, um die Häufigkeit von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung abzuschätzen. Man geht von einer Lebenszeitprävalenz von Gewalterfahrung in der Kindheit in Deutschland für körperliche Gewalt bei 11,8 % der Männer und bei 9,9 % der Frauen aus. Sexuelle Misshandlungen mit Körperkontakt in der Kindheit werden von 2,8 % der befragten Männer und 8,6 % der Frauen zwischen 16 und 69 Jahren berichtet.
Stationär in allen Krankenhäusern betreute Kinder zeigen in etwa 2 % der Fälle körperliche Symptome auf, die an Misshandlung und Vernachlässigung denken lassen. Die Häufigkeit der Erkennung in Kinderarztpraxen variiert stark und liegt bei vier von 100.000 Patientenkontakten bei Verdacht auf körperliche Misshandlung, 17 bei Verdacht auf seelische Misshandlung und drei bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Bleibende körperliche Schädigungen und Behinderungen nach körperlicher Misshandlung kommen vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern vor.
(Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2010, S. 1)
Vernachlässigung
„Die Vernachlässigung stellt eine Besonderheit sowohl der körperlichen als auch der seelischen Kindesmisshandlung dar. Eltern können Kinder vernachlässigen, indem sie ihnen Zuwendung, Liebe und Akzeptanz, Betreuung, Schutz und Förderung verweigern oder indem die Kinder physischen Mangel erleiden müssen. Dazu gehören mangelnde Ernährung, unzureichende Pflege und gesundheitliche Fürsorge bis hin zur völligen Verwahrlosung. Diese Merkmale sind Ausdruck einer stark beeinträchtigten Beziehung zwischen Eltern und Kind.“ (Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit 2007, S.12)
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen vermutet, dass Kindesvernachlässigung die mit Abstand häufigste Gefährdungsform der im Bereich der Kinder¬ und Jugendhilfe bekannt werdenden Fälle sei. Dies zeige sich auch daran, dass in über 50 % der Fälle, bei denen das Familiengericht angerufen werde, Vernachlässigung das zentrale Gefährdungsmerkmal sei (vgl. www.fruehehilfen.de).
Nicht mehr im Verborgenen
„Sexueller Missbrauch an Kindern ist heute kein Verbrechen mehr das im Verborgenen geschieht. Es passiert etwa 50.000¬ bis 60.000mal im Jahr, also täglich hundertfach, und diese Zahl nennt nur die Fälle von Übergriffen mit Körperkontakt. Es geschieht im Internet, wo millionen-fache Missbrauchsabbildungen und ¬filme in Tauschbörsen gehandelt werden. Sogenannte Kinderpornographie, die nichts anderes ist als die abgebildete und abgefilmte Vergewaltigung von Kindern. Die Polizeidienststellen, Staatsanwaltschaften, Gut-achter und Richter sind längst überfordert mit dem, was sich ihnen darbietet. Es fehlt an Ermittlern, an qualifizierten Gutachtern, schlicht an Personal. In vielen ermittelten Fällen kommt es so nicht einmal zur Anklage.“ (Tichomirow 2013, S. 13, Auszug)
Sexualisierte Gewalt
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (2013) versteht sexualisierte Gewalt als „jede sexuelle Handlung, die durch Erwachsene oder Jugendliche an, mit oder vor einem Mädchen oder Jungen entweder gegen den Willen vorgenommen wird oder der das Mädchen oder der Junge aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter bzw. die Täterin nutzt seine bzw. ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen und ignoriert die Grenzen des Kindes. Enge Definitionen beziehen ausschließlich Handlungen mit direktem und eindeutig als sexuell identifizierbarem Körperkontakt zwischen Opfer und Täter bzw. Täterin ein. Diese sind unmittelbar der sexuellen Bedürfnisbefriedigung des Täters oder der Täterin dienender Hautkontakt mit der Brust oder den Genitalien des Kindes bis hin zur vaginalen, analen oder oralen Vergewaltigung. Weite Definitionen von sexuellem Missbrauch umfassen zudem sexuelle Handlungen mit indirektem oder ohne Körperkontakt wie z. B. Exhibitionismus oder Handlungen, die das Kind zwingen, sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen oder pornografische Filme anzuschauen.“
Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen wird in den meisten Fällen von Personen aus der Familie oder dem sozialen Nahbereich der Mädchen und Jungen begangen. Ein wesentlicher Unterschied zur körperlichen Misshandlung ist, dass der Täter häufiger in überlegter Absicht handelt. Sexuelle Übergriffe sind eher geplant als körperliche Gewalttaten.
Die polizeiliche Kriminalstatistik für 2011 weist 12.444 registrierte Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf (§§ 176, 176a, 176b StGB). Das ist ein Anstieg von 4,9 % gegenüber 2010.
Eine 2011 veröffentlichte repräsentative Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachens (2011) zum sexuellen Missbrauch kommt zu folgenden Ergebnissen:
Bei Kindern unter 14 Jahren gaben 5,0 % der weiblichen und 1,0 % der männlichen Befragten an, sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt erlebt zu haben. 4,5 % der befragten weiblichen und 1,3 % der befragten männlichen Personen berichteten von exhibitionistischen Handlungen männlicher Täter. Die Autoren bilanzieren: „Im Vergleich zur KFNUntersuchung des Jahres 1992 ist ein deutlicher Rückgang des Missbrauchs zu verzeichnen.“ Ein Grund hierfür sei die deutlich erhöhte Anzeigebereitschaft. Die öffentliche Aufmerksamkeit und die Anteilnahme für die Leiden der Betroffenen haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte deutlich erhöht und damit einhergehend auch die Unterstützung der Betroffenen durch Organisationen der Opferhilfe und durch andere Institutionen.
In einer Repräsentativbefragung für die Schweiz (UBS Optima Foundation 2012, S. 29) gaben Schülerinnen und Schüler der neunten Klassen folgende Erlebnisse an:
- 15 % haben schon einmal sexuelle Übergriffe mit Körperkontakt erlebt
- 3 % der Mädchen und 0,5 % der Jungen wurden schon einmal zu Geschlechtsverkehr mit Penetration gezwungen
- 30 % aller befragten Jugendlichen haben schon einmal sexuelle Übergriffe ohne Körperkontakt erlebt
- Mädchen gaben signifikant häufiger als männliche Jugendliche an, schon einmal Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein
- Zwei Drittel derjenigen Jugendlichen, die schon einmal Opfer sexueller Übergriffe wurden, machten diese Erfahrung wiederholt.
Für den Vorschulbereich liegen kaum Zahlenangaben zum Bereich sexueller Missbrauch vor. Eine Institutionenbefragung in der Schweiz (UBS Optimus Foundation 2011) hat in Bezug auf die Beziehungen zwischen Opfern und Tätern bei sexuellem Missbrauch im Alter von 1–5 Jahren folgendes Bild ergeben: Täter waren: Väter (45 %), andere Erwachsene (26 %), Gleichaltrige (15 %), Geschwister (5 %), andere Betreuungspersonen (5 %), Mütter (3 %), Fremde (1 %).
Wer wird Opfer?
Alter und Geschlecht sind wesentliche individuelle Faktoren der Viktimisierung. Im Allgemeinen sind kleinere Kinder der körperlichen Misshandlung am stärksten ausgesetzt, während die höchsten Raten des sexuellen Missbrauchs unter Kindern in der Pubertät oder unter Jugendlichen zu finden sind. In den meisten Fällen werden Jungen häufiger geschlagen und eher körperlich bestraft als Mädchen, während letztere stärker der Gefahr ausgesetzt sind, Opfer von Kindestötung, sexuellem Missbrauch und Vernachlässigung zu werden. Die Gefahr, misshandelt zu werden, erhöht sich für ein Kind auch noch durch andere Faktoren, beispielsweise wenn es bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwächst oder sehr junge Eltern hat, die keine Unterstützung im Familienverband finden. Beengte Wohnverhältnisse oder andere durch Gewalt geprägte familiäre Beziehungen (z. B. zwischen Eltern) sind ebenfalls Risikofaktoren.
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass vielerorts Frauen ihre Kinder häufiger körperlich bestrafen als Männer. Doch wenn die physische Gewalt zu schweren oder tödlichen Verletzungen führt, sind die Täter häufiger Männer (vgl. WHO 2002).