Was ist Gewalt?

Gewalt ist ein Phänomen, das nicht klar definiert und abgegrenzt ist, weder in der Wissenschaft noch im Alltag. In der öffentlichen Diskussion werden oft verschiedene Dinge gleichzeitig als Gewalt bezeichnet: Beschimpfungen, Beleidigungen, Mobbing, Gewaltkriminalität (Raub- und Morddelikte), Vandalismus, gewalttätige Ausschreitungen bei Massenveranstaltungen, fremdenfeindliche Gewalt gegen Menschen usw.

Auch im wissenschaftlichen Bereich gibt es keine allgemein akzeptierte Definition und Beschreibung von Gewalt. Mehrere Begriffsbestimmungen und Theoriestränge stehen weitgehend unverbunden nebeneinander (etwa im Bereich der Aggressionsforschung).

Der Gewaltbegriff ist problematisch
„Vor dem Hintergrund einer Theorie der Kindheit ist die Verwendung des Begriffs ‚Gewalt‘ für das Verhalten von Kindern im Vorschulalter problematisch. Weder wird er dem unter diesem Etikett zusammengefassten breiten Verhaltensspektrum gerecht, noch eignet er sich als Ausgangspunkt für präventive Strategien. Diese benötigen eine differenzierte Betrachtungsweise und als Voraussetzung empirische Forschung, die eine breitere Datenbasis zur Verfügung stellt und Zusammenhänge erklärt.“ (Sommerfeld 2007, S. 80)

Der Begriff Gewalt wird dabei häufig auch synonym zu dem Begriff Aggression gebraucht bzw. als Teilmenge von Aggression verstanden. Dies rührt daher, dass sich die Begriffe Aggression und Gewalt nicht klar voneinander trennen lassen. Unter Aggression werden häufig minder schwere Verletzungen oder die Übertretung von sozialen Normen verstanden, während mit Gewalt schwere Verletzungen und Übertretungen von Geboten und Gesetzen bezeichnet werden. In diesem Verständnis ist Aggression dann eine Vorform von Gewalt. Allerdings beinhaltet der Begriff Aggression immer auch positive Lebenskräfte und Energien.

Deshalb unterscheidet Erich Fromm (1996) zwischen „gutartiger Aggression“ als notwendigem Energiepotenzial und positive Kraft sowie „bösartiger Aggression“ als spezifische menschliche Leidenschaft, zu zerstören und absolute Kontrolle über ein Lebewesen zu haben. Die bösartige Aggression bezeichnet er als Destruktion.

Je nachdem, ob die Ursachen und Bedingungen von Gewalt eher beim Individuum oder in gesellschaftlichen Lebenslagen gesehen werden, werden unterschiedliche Verantwortlichkeiten angesprochen.

Gewaltprävention hat also mit dem Dilemma zu tun, dass sie einerseits auf vorfindbare Gewalt Antworten geben will, andererseits aber nur wenig oder kaum auf präzise Analysen, Beschreibungen und Definitionen ihres Gegenstands zurückgreifen kann.

Um einen praktikablen Ausweg zu finden, grenzen viele Projekte oder Ansätze der Gewaltprävention Gewalt auf den Bereich der physischen Gewaltanwendung ein. Dies erscheint in der Praxis der Gewaltprävention für die Durchführung konkreter Projekte vor Ort als legitim und sinnvoll.

Gegen eine solche Reduktion der Gewalt auf körperliche Gewalt gibt es allerdings auch Einspruch, da dadurch viele weitere Bereiche der Gewalt ausgeklammert werden (vgl. Gudehus/Christ 2013).

Armut
„Armut bedeutet – vor allem für diejenigen, die ihr nicht durch eigenes Verschulden ausgeliefert sind – nicht nur existenzielle Not, sondern sie ist vor allem eine Ausgrenzungserfahrung. Aus diesem Grund ist sie auch ein besonders ergiebiger Nährboden für Gewalt.“ (Bauer 2011, S. 66)

Gewaltbegriffe
Der Gewaltbegriff von Johan Galtung
Der Friedensforscher Johan Galtung unterscheidet drei Typen von Gewalt: personale, strukturelle und kulturelle Gewalt. Bei personaler (oder auch direkter) Gewalt sind Opfer und Täter eindeutig identifizierbar und zuzuordnen.

Strukturelle Gewalt produziert ebenfalls Opfer. Aber nicht Personen, sondern spezifische institutionelle oder gesellschaftliche Strukturen und Lebensbedingungen sind hierfür verantwortlich. Mit kultureller Gewalt werden Ideologien, Überzeugungen, Überlieferungen und Legitimationssysteme beschrieben, mit deren Hilfe direkte und strukturelle Gewalt ermöglicht und legitimiert wird.

Galtung sieht einen engen Zusammenhang zwischen diesen Gewalt-formen und beschreibt das Dreieck der Gewalt als Teufelskreis, der sich selbst stabilisiert, da gewalttätige Kulturen und Strukturen direkte Gewalt hervorbringen und reproduzieren.

Der Gewaltbegriff Galtungs zeigt, dass es nicht ausreicht, Gewalt lediglich als zwischenmenschliche Handlung – als Verhalten – zu begreifen. Es müssen auch religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Legitimationssysteme sowie gesellschaftliche Strukturen berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Gewalt als komplexes Phänomen zu verstehen.

Das Dreieck der Gewalt

Dreieck der Gewalt

 

Kulturell legitimierte Gewalt
Willentliche Gewaltausübung und Gewalterfahrung sind in unserer Kultur überall präsent, etwa im Sport (Boxen, Ringen, Fechten), insbesondere bei sexuellen Sado-Maso-Praktiken oder in Selbstverstümmelungen wie beim Piercing. Die Kultur der Massenmedien schließlich trieft vor nicht-instrumenteller Gewalt. (...) Die Popularkultur heroisiert den gewaltsamen Täter. So sehr sie offiziell für Gewaltfreiheit eintritt, so sehr dementiert sie dies in ihren Bilder- und Tonwelten, die allabendlich in die Wohnstuben flimmern. Diese Gewalt dient keinem Zweck, der außerhalb von ihr läge. Ihre Devise ist vielmehr das reine intensive Erlebnis nach der Devise „It‘s better to burn out than to fade away“ (Neil Young). Die in sozialer Hinsicht „sinnlose“ Gewalt kann somit einen subjektiven Sinn in der Erlebnissteigerung und der Intensivierung von Selbsterfahrung besitzen. Darüber hinaus gibt es aber auch Formen von Gewalt, die einen direkten instrumentellen Sinn haben und daher gewöhnlich sozial hoch bewertet werden. Dies gilt in erster Linie für die kriegerische Gewalt und zwar dann, wenn sie legitim und erfolgreich ausgeübt wird. (...)

Die Gesellschaften können der Gewalt nicht entkommen, sie können nur versuchen, ihr eine kulturell erträgliche Form zu geben. (Sieferle 1998, S. 25 f., Auszüge)

 

Der Gewaltbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Die WHO hat in ihrem 2002 veröffentlichten „World Report on Violence and Health“ eine detaillierte Typologie von Gewalt vorgelegt, in der Gewalt als „der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, die entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt“, verstanden wird (WHO 2002, S. 6).

Aggression und Konflikt
„Krippen- und Kindergartenkinder tragen ihre Konflikte häufig körperlich aus. Dies sind oft Zeichen von alterstypischen Aggressionshäufungen und Zeichen noch mangelnder sozialer Kompetenzen und interaktiver Hilflosigkeit, die sich bei entsprechenden Unterstützungsmöglichkeiten bis zum fünften Lebensjahr weitgehend legt.“ (Haug-Schnabel 2009, S. 46)

Diese Definition umfasst zwischenmenschliche Gewalt ebenso wie selbstschädigendes oder suizidales Verhalten und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Staaten.

Eine konkrete Typologie von Gewalt bietet einen analytischen Bezugsrahmen und identifiziert konkrete Ansatzpunkte für Gewaltprävention. Sie gliedert Gewalt in drei Kategorien, die darauf Bezug nehmen, von wem die Gewalt ausgeht bzw. zwischen wem Gewalt stattfindet: Gewalt gegen die eigene Person, interpersonelle Gewalt und kollektive Gewalt.

Als Gewalt gegen die eigene Person gelten suizidales Verhalten und Selbstschädigung. Die interpersonelle Gewalt gliedert sich in Gewalt in der Familie und unter Intimpartnern sowie in Gewalt, die von Mit-gliedern der Gemeinschaft ausgeht. Kollektive Gewalt bezeichnet die gegen eine Gruppe oder mehrere Einzelpersonen gerichtete instrumentalisierte Gewaltanwendung durch Menschen, die sich als Mit-glieder einer anderen Gruppe begreifen und damit politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ziele durchsetzen wollen. Hierunter zählen auch Bürgerkriege und Kriege.

Der Gewaltbegriff von Herbert Scheithauer u.a.
Der Psychologe und Gewaltpräventionsforscher Herbert Scheithauer und andere (2012, S. 7) verwenden für den Bereich der Gewaltprävention den Begriff der interpersonalen Gewalt:
„Der Begriff der interpersonalen Gewalt bezieht sich (...) auf das gewalttätige Verhalten einer oder mehrerer Personen gegenüber einer/mehrerer anderer Personen. Interpersonale Gewalt wird beispielsweise nach Kruttschnitt (1994) durch drei Elemente gekennzeichnet:

  • Verhaltensweisen einer oder mehrerer Personen, die zu einer körperlichen Schädigung führen, diese androhen oder versuchen. Die Gewalttat an sich muss demnach nicht tatsächlich ausgeführt werden oder erfolgreich sein.
  • Intention körperlicher Schädigung (ausgeschlossen wird somit Fahrlässigkeit und Rücksichtslosigkeit).
  • Vorhandensein einer oder mehrerer Personen (Opfer), gegen die sich die Verhaltensweisen richten“ (Scheithauer 2003).

Typologie der Gewalt

Gewaltprävention Vorschule und Kindergarten

Kein gemeinsamer Gewaltbegriff
Der Gewaltbegriff ist nicht eindeutig und einfach fassbar. Definitionen von Gewalt sind immer auch interessengeleitet. Gewalt ist in dreifacher Weise kontextgebunden: historisch, geografisch und kulturell. Was an einem Ort und zu einer bestimmten Zeit als Gewalt bezeichnet und erlebt wird, gilt (wissenschaftlich betrachtet) nicht unbedingt für andere Zeiten und andere Orte. Gewalt ist kein einheitliches, singuläres Phänomen, sondern nur in der Vielfalt seiner Formen zu begreifen.

Ausdrucksformen von Aggression bei Kindern

  • offen aggressiv
  • verdeckt aggressiv (Gerüchte verbreiten)
  • aktiv: zielgerichtet (weg-nehmen)
  • reaktiv: sich bei Angriff wehren
  • emotionsgeleitet (Wut, Ärger)
  • erpresserisch: geplant, gezielt schädigend
  • instrumentell: Vorteil erlangen
  • feindselig: Rache üben, Gewalt um der Gewalt willen.

(Koglin/Petermann o.J. www.kindergartenpaedago gik.de/747.html)

Dennoch benötigt Gewaltprävention einen Gewaltbegriff, der ein umfassendes Verständnis von Gewalt ermöglicht und die vielfältigen Formen und Ebenen von Gewalt einschließt. Der Rückgriff auf und die Akzeptanz eines gemeinsamen Verständnisses von Gewalt erscheint für Gewaltprävention, die gesamtgesellschaftlich und international kooperieren und sich vernetzen will, unabdingbar. Die Konsequenz einer mangelnden Verständigung über den Bedeutungsgehalt von Gewalt ist, dass keine gemeinsamen Strategien gegen Gewalt entwickelt werden können, da bereits die Grundlage, nämlich eine detaillierte Datenerhebung über Gewaltvorkommen nicht möglich ist bzw. vorhandene Daten nicht verglichen werden können.

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