Auch im Kontext von Aggression und Gewalt ist die Suche nach einfachen Erklärungsweisen (Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen) zwar verständlich, aber nicht realisierbar. Deshalb wird heute in der Forschung von Risikofaktoren gesprochen, die sich verdichten, kumulieren und aufschaukeln können (vgl. Kap. 3.1).
Das ökologische Modell der WHO
Die Weltgesundheitsorganisation weist in ihrem „World Report on Violence and Health“ darauf hin, dass Gewalt ein außerordentlich komplexes Phänomen ist, das in der Wechselwirkung zahlreicher bio-logischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Faktoren wurzelt.
Die WHO entwickelte deshalb ein sog. „ökologisches Modell“ zur Erklärung der Gewaltursachen, das dem vielschichtigen Charakter der Gewalt Rechnung tragen soll. Dieses Modell verknüpft verschiedene Ursachenstränge als Erklärungsansatz und ist zugleich ein Analyseinstrument, um konkrete Gewaltvorkommen besser verstehen zu können.
Das mit vier Ebenen arbeitende Modell ist hilfreich für die Ergründung der das Verhalten beeinflussenden Faktoren oder von Faktoren, die das Risiko, zum Gewalttäter oder Gewaltopfer zu werden, erhöhen. Auf den Vorschulbereich bezogen können folgende Risikofaktoren identifiziert werden (vgl. WHO 2002, Lösel 2004, Ratzke 1994, Schick 2011, Scheithauer 2012):
Rolle der Familie
Viele Familien sind, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne dies zu wollen, Brutstätten für eine spätere Gewaltbereitschaft der in ihnen lebenden Kinder. Kinder, die keine zuverlässigen Bindungen zu ihren Bezugspersonen haben, um die sich kaum jemand kümmert und für die niemand Zeit hat, leben im Zustand der Ausgrenzung. Eine geradezu erdrückende wissenschaftliche Datenlage zeigt, dass vernachlässigte oder von Gewalterfahrung betroffene Kinder in späteren Jahren eine massiv erhöhte Gewaltbereitschaft zeigen und ein massiv erhöhtes Risiko haben, kriminell zu werden. Zur guten Erziehung eines Kindes gehören liebevolle Zuwendung, klare Regeln und das gemeinsame Einüben, dass Bedürfnisbefriedigung aufgeschoben und Frustrationen ertragen werden können. Auch Kindergärten und Schulen sind Orte, in denen Spielarten von Ausgrenzungen und Demütigungen stattfinden. Dies betrifft vor allem den Umgang der Kinder untereinander. (...) Auch Kindergärten und Schulen sind Orte, wo Konflikte fair ausgetragen werden müssen. Es ist jedoch eine bisher zu wenig wahrgenommene Aufgabe von Eltern und von Pädagogen, gemeinsam (!) darauf zu dringen, dass dies fair und ohne Ausgrenzungen und Demütigungen passiert. Eine diesbezügliche Achtsamkeit ist die beste Prävention gegen Gewalt. (Bauer 2011, S. 195)
1. Biologische und persönliche Entwicklungsfaktoren
Auf der ersten Ebene werden die biologischen Faktoren und persönlichen Entwicklungsfaktoren erfasst, die einen Einfluss darauf haben, wie sich der einzelne Mensch verhält.
Friedrich Lösel (2004) zählt hierzu u.a. männliches Geschlecht, genetische Disposition (Erbanlagen), Schwangerschaftsrisiken (fötales Alkoholsyndrom), Geburtskomplikationen (Mangelgeburt), geringes Erregungsniveau (Pulsrate), Neurotransmitter-Dysfunktion (Serotonin), hormonelle Faktoren (Testosteron, Cortisol).
Frühe Persönlichkeits- und Verhaltensrisiken sind nach Lösel u.a.: Schwieriges Temperament, Impulsivität, Hyperaktivität-Aufmerksamkeitsdefizit, Risikobereitschaft und Stimulierungsbedürfnis, Intelligenz-und Sprachdefizite, Bindungsdefizite, früher Beginn dissozialen und aggressiven Verhaltens, Verhaltensprobleme in verschiedenen Kontexten (Familie, Kindergarten, Schule).
2. Beziehungsebene
Hierzu gehören für Kleinkinder Risikofaktoren vor allem im Bereich der Familie. Diese sind u.a. frühe ungünstige Bindungserfahrungen, fehlende elterliche Wärme, mangelnde Aufsicht und Betreuung, Vernachlässigung, Kindesmisshandlung, ungünstiger Erziehungsstil, konfliktreiche Beziehungsdynamiken, geringer Zusammenhalt in der Familie, Scheidung/Trennung, Aggression als Modell der Konfliktlösung, Armut, Kriminalität der Eltern sowie Devianz fördernde elterliche Ein-stellungen.
Negative Entwicklungsverläufe als Risikofaktoren
Koglin und Petermann sehen insbesondere in negativen Entwicklungsverläufen, die bereits im Säuglingsalter beginnen können, eine Vielzahl von Risikofaktoren, die im kindlichen Bereich, in der Familie oder im sozialen Umfeld liegen. Für das Kindergartenalter identifizieren sie folgende kindbezogene Risikofaktoren für aggressives Verhalten:
- Defizite in der emotionalen Kompetenz: geringe Fähigkeiten, eigene Gefühle oder die Gefühle anderer zu erkennen oder zu benennen sowie eine geringe Fähigkeit, Emotionen sprachlich auszudrücken.
- Defizite in der sozialen Problemlösung: Vermehrte Anwendung aggressiver Problemlösungen, Interpretation von Handlungen anderer als ablehnend oder feindselig oder unrealistische Bewertung der Konsequenzen aggressiver Handlungen.
- Ablehnung durch Gleichaltrige: Die Zurückweisung geht oft einher mit bereits bestehenden Verhaltensproblemen und Schwierigkeiten, sich angemessen am Spiel von Gleichaltrigen zu beteiligen oder sich an Spielregeln zu halten. Die Kombination von früh auftretendem aggressiven Verhalten und Zurückweisung durch Gleichaltrige gehören zu den stärksten kindlichen Prädiktoren von chronisch aggressivem, delinquentem und gewalttätigem Verhalten (Coie 2004). (Koglin/Petermann o.J. www.kindergartenpaedagogik.de/747.html)
3. Familiäres und regionales Umfeld
Auf der dritten Ebene geht es um die sozialen Beziehungen stiftenden Umfelder der Gemeinschaft wie Kindergärten, Schule, Betreuungseinrichtungen, Arbeitsplätze und Nachbarschaften sowie um die für die jeweiligen Settings charakteristischen, Gewalt fördernden Risikofaktoren. Das Risiko auf dieser Ebene wird beispielsweise durch Faktoren wie Wohnmobilität beeinflusst (d.h. ob die Bewohner der unmittelbaren Nachbarschaft sehr sesshaft sind oder häufig umziehen), aber auch durch Faktoren wie hohe Arbeitslosigkeit oder die Existenz eines Drogenmarktes vor Ort. Die Qualität der Erziehungseinrichtungen, mangelnde Bindung an die Gruppe, mangelnde individuelle Förderung, Armut, Konzentration von Problemfamilien, desorganisierte Nachbarschaft, mangelnder Kontakt zum Umfeld, mangelnde soziale Vernetzung und fehlende individuelle Unterstützungssysteme wirken sich hier ebenfalls als Risikofaktoren aus.
4. Gesellschaftliche Faktoren
Zu den gesellschaftlichen Faktoren, die ein gewaltförderndes oder ihr abträgliches Klima schaffen, gehören u.a. soziale und kulturelle Normen, die Gewalt in der Erziehung, aber auch darüber hinaus dulden oder gar akzeptieren. Normen, die Gewalt nicht eindeutig verurteilen und große Graubereiche zulassen. Eine solche Norm ist beispielsweise, wenn das Elternrecht gegenüber dem Wohl des Kindes Vorrang genießt. Auch Männlichkeitsbilder, die die Dominanz gegenüber Frauen und Kindern festschreiben und zu denen eine aggressive Durchsetzungsfähigkeit gehört, sind solche Risikofaktoren. Ein gesellschaftlicher Faktor im weiteren Sinne ist auch eine Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, die wirtschaftliche und soziale Verteilungsungerechtigkeiten in der Gesellschaft festschreiben.
Das ökologische Modell trägt also zur Klärung der Gewaltrisiken und ihrer komplizierten Wechselwirkungen bei, macht aber auch deutlich, dass auf mehreren Ebenen gleichzeitig gehandelt werden muss, wenn Gewalt verhindert werden soll.
Lösel (2004) weist darauf hin, dass jeder dieser Risikofaktoren für sich genommen nur relativ schwach mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten zusammenhinge, eine Kumulation der Faktoren jedoch das Risiko erheblich steigere. Maßnahmen der Gewaltprävention müssen deshalb so angelegt sein, dass sie Risiken in möglichst vielen Bereichen vermindern und protektive Mechanismen stärken (vgl. Kap. 3.1).
Geschlechtsspezifische Zusammenhänge
Unübersehbar ist der geschlechtsspezifische Zusammenhang: Das aggressive Kind ist vorwiegend männlich. Schwere körperliche Aggression geht primär von Jungen aus. Diese Beobachtung weist darauf hin, dass es geschlechtsspezifische Ausdrucksformen von Aggression gibt. Mädchen reagieren eher verbal aggressiv und versuchen, Beziehungen zu kontrollieren. Jungen versuchen, sich körperlich zu messen und durchzusetzen. Sie sind häufig raumgreifender und lauter als Mädchen. Jungen passen sich auch weniger den Vorgaben der Erzieherinnen an.
Diese spezifischen Ausformungen (nicht nur) kindlicher Aggression werden noch dadurch verstärkt, dass Frauen in sozialen Berufen und insbesondere bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter weit überrepräsentiert sind. Das männliche Pendant fehlt oft gänzlich. Die Wahrnehmung von Aggression ist jedoch stark geschlechtsbezogen und durch die eigene Sozialisation geprägt. Wahrnehmungen und Bewertungen von Verhalten sind automatisierte Prozesse, die weit-gehend unbewusst ablaufen (vgl. Sommerfeld 2007).
Mythos: Die meisten zukünftigen Täter können bereits in der frühen Kindheit identifiziert werden
Unkontrolliertes Verhalten oder das Zeigen aggressiver Verhaltensweisen in der frühen Kindheit ist kein Indikator für gewalttätiges Verhalten in der Adoleszenz. Die Mehrzahl der Jugendlichen, die während ihrer Adoleszenz gewalttätiges Verhalten zeigen, waren in der frühen Kindheit nicht hoch aggressiv oder „außer Kontrolle“. Und die Mehrzahl der Kinder mit kognitiven oder Verhaltensproblemen werden in der Adoleszenz nicht auffällig.
Ausgrenzung und Schmerzgrenze
Der Freiburger Arzt und Neurobiologe Joachim Bauer (2011, S. 192 f.) macht auf einen grundlegenden Aspekt von Aggression und Gewalt-entstehung aufmerksam: „Aggressives Verhalten ist ein evolutionär entstandenes, neurobiologisch verankertes Verhaltensprogramm, welches den Menschen in die Lage versetzen soll, seine körperliche Unversehrtheit zu bewahren und Schmerz abzuwenden.“ Aggression folge dabei immer Regeln. Es sei kein spontan auftretendes Verhalten, sondern immer eine Reaktion.
Die neurobiologische Forschung konnte in den vergangenen Jahren zeigen, dass Menschen mit Aggression und Gewalt reagieren, wenn bei ihnen eine bestimmte Schmerzgrenze überschritten wird. Diese Schmerzgrenze kann durch körperliche Gewalt erreicht werden oder aber auch durch Ungerechtigkeit und mangelnde Fairness. Wenn Menschen so behandelt werden, fühlen sie sich ausgegrenzt und können aggressiv werden.
Die Beobachtung, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung und Verachtung „aus Sicht des Gehirns“ wie körperlicher Schmerz wahr-genommen werden, bedeute einen Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression, so Bauer (ebd., S. 59).
Fehlende Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Zurückweisung durch andere Menschen seien die stärksten und wichtigsten Aggressions-auslöser, denn das Motivationssystem des Gehirns sei auf die Erlangung von Vertrauen, Zugehörigkeit und Kooperation ausgerichtet.
Solche Ausgrenzungen finden in allen Lebensbereichen, der Familie ebenso wie in der Kindertagesstätte statt. Oft ist sie verbunden mit Konflikten, die nicht oder nicht gut bearbeitet werden und deshalb mit Demütigungen für die eine oder andere Seite verbunden sind. Aggression, so Bauer, sei also ein kommunikatives Signal, das aufmerksam mache, dass ein körperlicher oder sozialer Schmerz empfunden werde (vgl. ebd., S. 193). Aggression signalisiere dabei, dass ein von Schmerz oder Ausgrenzung betroffenes Individuum nicht bereit und nicht in der Lage sei, eine ihm zugefügte soziale Zurückweisung zu akzeptieren. Wenn diese Funktion des Aufmerksammachens vorhanden sei, erfülle Aggression eine wichtige Aufgabe und sei positiv. Wenn sie diese Funktion eingebüßt habe, werde sie destruktiv und zum Auslöser von Gewaltkreisläufen.
Damit diese kommunikative Funktion der Aggression erfüllt werden könne, d.h. sie richtig wahrgenommen werde, müsse sie im zeitlichen Kontext und in angemessener Weise geäußert werden. Häufig finde jedoch eine doppelte Verschiebung dieser aggressiven Äußerungen statt: Sie werde an einem anderen Ort (Zusammenhang) und auch zu einem späteren Zeitpunkt und dazu oft noch völlig unangemessen (in der falschen Dosis) geäußert. Damit werde sie nicht (mehr) verstanden und verschlimmere das Problem, auf das sie sich eigentlich bezog (ebd., S. 63). Eine solche Aggression habe ihre kommunikative Funktion verloren und wirke deshalb destruktiv. Sie werde dann sogar zum Grund für Gegenaggression.
Schmerz beobachten
„Die zum Aggressionsapparat zählenden Komponenten des Gehirns fühlen sich nicht nur angesprochen, wenn Schmerz am eigenen Leib erlebt wird, sondern auch dann, wenn wir beobachten, wie jemand anderem wehgetan wird (Spiegelneuronen). Mit Blick auf die Aggression erklärt dies, warum es uns durchaus auch dann wütend und aggressiv machen kann, wenn wir sehen, wie einer anderen Person Leid zugefügt wird (insbesondere, wenn sie uns nahesteht).“ (Bauer 2011, S. 57)