Entwicklung einer Kultur des Friedens

Soll sich Gewaltprävention nicht in einer situativen „Gegen­Gewalt“ erschöpfen, bedarf es eines überzeugenden übergeordneten Bezugs-rahmens, der über die eigene Einrichtung hinausweist und die Vision eines gelingenden Zusammenlebens beinhaltet.

Gewaltprävention Vorschule und KindergartenMenschen benötigen nicht nur Techniken und Methoden der Gewalt-prävention, sie brauchen auch Ziele und Visionen. Solche Visionen und Bezugsrahmen für das eigene und institutionelle Handeln haben die Funktion, sich selbst in einem größeren Kontext verorten zu können und den eigenen Beitrag zu diesem größeren Ziel zu sehen. Sie wirken deshalb auch sinnstiftend.

Hier könnte Gewaltprävention von Ergebnissen der Friedens¬ und Konfliktforschung profitieren. Nach langen Jahren der Kriegsursachenforschung hat sich die nüchterne Erkenntnis herausgebildet, dass sich mit den Kenntnissen der Ursachen für gewaltsame Konflikte und Kriege, so wichtig diese auch sind, noch nicht die Bedingungen des Friedens formulieren lassen. Dieser Paradigmenwechsel, weg von der Kriegsursachenforschung, hin zur Erforschung der Bedingungen für Friedensfähigkeit, ermöglichte neue weitreichende Erkenntnisse.

Der Bremer Friedensforscher Dieter Senghaas (zum Folgenden: 2004, S. 30–40) untersuchte den Übergang von traditionellen zu modernen Gesellschaften, um herauszufinden, welche Bereiche eines Staates vorhanden und entwickelt sein müssen, damit er friedensfähig wird. Auf dieser Grundlage arbeitete er sechs Bedingungen heraus, die für eine zivilisierte, d.h. nachhaltig gewaltfreie Bearbeitung von unvermeidlichen Konflikten von Bedeutung sind. Diese sechs Bedingungen sind (1) ein staatliches Gewaltmonopol, (2) Rechtsstaatlichkeit, (3) Interdependenzen und Affektkontrolle, (4) demokratische Teilhabe, (5) soziale Gerechtigkeit und (6) eine Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung.

Diese sechs Bedingungen sind miteinander verbunden und stehen in gegenseitiger Abhängigkeit. Senghaas nennt dieses Gebilde „zivilisatorisches Hexagon“.

An oberster Stelle des Hexagons steht das legitime Monopol staatlicher Gewalt, verstanden als die Sicherung der Rechtsgemeinschaft. Diese Entprivatisierung von Gewalt nötigt dazu, Konflikte mit Argumenten und nicht mit Gewalt auszutragen.

Das Gewaltmonopol bedarf der rechtsstaatlichen Kontrolle, soll es nicht einfach Ausdruck von Willkür sein. Ohne eine solche Kontrolle wäre das Gewaltmonopol nichts anderes als eine Diktatur, also Herrschaft des Stärkeren.

Die Entprivatisierung von Gewalt, also die Entwaffnung der Bürger und das Angebot von Konfliktregelungen macht die Kontrolle von Affekten erforderlich. Diese Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle ergeben sich aus dem Zwang zum (gewaltfreien) Zusammenleben. Affektkontrolle ist eingeübte Selbstdisziplin.

Partizipation ist Voraussetzung für eine friedliche Konfliktlösung. Unterordnungsverhältnisse werden von den Bürgern nicht mehr erduldet. Sie wollen und können ihre Interessen artikulieren und sich an Entscheidungsprozessen beteiligen.

Interessenartikulation und Beteiligung sind nur dann von Dauer, wenn es anhaltende Bemühungen um soziale Gerechtigkeit gibt, es also fair zugeht. Dabei geht es um Chancengerechtigkeit und um Verteilungsgerechtigkeit sowie um die Sicherung von Grundbedürfnissen (Bedürfnisgerechtigkeit).

Gibt es im öffentlichen Raum faire Chancen für die Artikulation und den Ausgleich von unterschiedlichen Interessen, sind die Vor-aussetzungen für Konfliktbearbeitung gegeben. Die Kultur konstruktiver Konfliktaustragung wird dabei zur emotionalen Grundlage des Gemeinwesens.

Diese sechs Komponenten, so Senghaas, sind als Voraussetzung und Bedingungen für eine dauerhaft zivilisierte Konfliktbearbeitung konfigurativ zu denken, d.h. sie sind in ihrer Gesamtheit und ihren Wechselwirkungen zu verstehen.

 Gewaltprävention Vorschule und Kindergarten

Denkt man das zivilisatorische Hexagon mit dem Projekt Gewaltprävention zusammen, so werden die gesellschaftlichen Bedingungen von Gewaltprävention und auch die politischen und gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten deutlich.

Obwohl sich das zivilisatorische Hexagon zunächst auf den staatlichen und gesellschaftlichen Bereich bezieht, könnte es lohnenswert sein, es probehalber auch auf den pädagogischen Kontext anzuwenden. So würde deutlich, dass vorschulische Gewaltprävention weitgehend in dem Bereich der Affektkontrolle und Konfliktbearbeitung (auf Kinderebene) ansetzt, weniger oder kaum die Bereiche soziale Gerechtigkeit, Fairness und Partizipation aufgreift.

Das zivilisatorische Hexagon kann als ein normativer Rahmen verstanden werden, der verdeutlicht und immer wieder fragend ins Gedächtnis ruft, an welchen Normen wir uns orientieren können, und dass es darum geht, eine Balance zwischen den sechs Ecken (Bereichen) herzustellen. Dabei ist stets auch zu klären, wer die Akteure in den verschiedenen Ecken des Hexagons sind und wer wofür die Verantwortung trägt.

Es geht also um individuelle und gemeinsame (kollektive) Lernprozesse, die ermöglichen, Gewalt zu vermeiden und Konflikte konstruktiv auszutragen. Die Orientierungshilfe für die Gestaltung dieser Lernprozesse könnten dabei für Gewaltprävention die benannten sie-ben Punkte sein (s. S. 36).
Gewaltprävention ist so gesehen kein Set von Maßnahmen, Modellen und Projekten im Nahbereich von Kindern, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ja Strategie der Demokratisierung und Zivilisierung. Man könnte auch einfacher sagen, der bürgerorientierten Sicherung und Weiterentwicklung unserer demokratischen Grund-ordnung.

Erst in dieser Einbettung sind die Einzelmaßnahmen sinnvoll und erst in diesem Kontext können die Einzelmaßnahmen auch auf ihren Beitrag für eine Zivilisierung und Demokratisierung von Gesellschaft geprüft werden. Gewaltprävention arbeitet, so verstanden, an der Entwicklung einer Kultur des Friedens, die die Kultur der Gewalt ablösen und überwinden kann.

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