Kindertagesstätten sind in besonderer Weise Orte, an denen Kinder und Erwachsene mit ganz unterschiedlicher Nationalität, Kultur und Religion zusammen kommen. Interreligiöse Bildung ist Teil einer interreligiösen Kultur.
Sie wird aber in der Praxis nur von ca. einem Drittel der Kindertageseinrichtungen umgesetzt. Und dies, obwohl der Alltag dort stark von religiösen Unterschieden der Kinder geprägt ist, so Befunde einer repräsentativen Befragung von Erzieherinnen in Deutschland (Edelbrock/Biesinger/Schweizer 2012; Hoffmann 2009). Eine multireligiöse Zusammensetzung der Kinder in Kitas ist alltäglich geworden und zwar in konfessionellen wie im nichtkonfessionellen Einrichtungen. Dabei sind, quantitativ gesehen, in religiöser oder weltanschaulicher Hinsicht besonders drei Gruppen hervorzuheben: christliche Kinder, konfessionslose Kinder und muslimische Kinder. Darüber hinaus kommen Minderheiten wie jüdische Kinder in den Blick, die ebenfalls nicht übergangen werden dürfen. Die multireligiöse Zusammensetzung der Kindergruppen führt dazu, dass ein darauf ein-gestellter (religions-)pädagogisch sensibler Umgang mit religiösen und weltanschaulichen Unterschieden als allgemeine Aufgabe von Kindertagesstätten zu bezeichnen ist.
Die Aufgabe interreligiöser Bildung lässt sich nicht auf Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft begrenzen (zum Folgenden: Schweitzer/ Biesinger/Edelbrock 2011).
Alle Kinder haben ein Recht auf Religion und auf kompetente religiöse Begleitung, ganz unabhängig davon, in welcher Art von Einrichtung sie sich befinden. Seit der Verabschiedung der Kinderrechtserklärung der Vereinten Nationen ist dieses Recht auch offiziell verbrieft.
Aus dieser Perspektive belegen die Untersuchungsbefunde einen enormen Nachholbedarf an religiöser Begleitung sowie an interreligiöser Bildung. Die Bedeutung interkultureller Bildung wird in den Einrichtungen bislang deutlich höher eingeschätzt als die der interreligiösen Bildung. Insofern stellt interreligiöse Bildung im Elementarbereich eine Zukunftsaufgabe dar, die in der Praxis noch entdeckt werden muss.
Religion nicht ausgrenzen
„Die Pädagogik in Deutschland hat in den vergangenen zwanzig Jahren einen Fehler gemacht, weil man gedacht hat, man kann interkulturelles Lernen gestalten und die Religion ausgrenzen. Und das geht eben mit muslimischen Kindern gar nicht. Man kann mit türkischstämmigen Kindern nicht über ihre Kultur reden und den Islam auf die Seite drücken.“
(Albert Biesinger. In: www.br.de/radio/bayern2/ sendungen/iq-wissenschaft-und-forschung/gesellschaft/religioese-erziehung100.html)
Bedeutung interreligiöser Bildung
- Fast jedes neunte Kind in den Kitas in Deutschland weist den Schätzungen der Erzieherinnen und Erzieher zufolge eine islamische Religionszugehörigkeit auf – bei weiter steigender Tendenz.
- 84 % der Befragten geben an, dass es in ihrer Gruppe Kinder mit Migrationshintergrund gibt und im Blick auf verschiedene Religions-zugehörigkeiten sind es 77 %.
- Mehr als drei Viertel der befragten Erzieherinnen und Erzieher begegnen also im Alltag, schon von der Zusammensetzung der eigenen Kindergruppe her, der Frage, wie die Beziehungen zwischen Kindern mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit und religiöser Prägung angemessen berücksichtigt werden können.
- 58 % der Erzieherinnen und Erzieher berichten, dass Kinder in ihrer Einrichtung aus religiösen Gründen bestimmte Lebensmittel nicht zu sich nehmen dürfen (Edelbrock/Biesinger/Schweizer 2012).
Auch über die Kindergruppen in der Kita hinaus begegnen den Kindern interreligiöse Fragen in alltäglicher Weise – sei es durch die Medien oder in Gestalt von Wahrnehmungen in der Öffentlichkeit. Und schließlich werden alle Kinder, die heute in Deutschland aufwachsen, mit einer auf Dauer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft zurechtkommen müssen.
Grundlagen
Grundlage für gelingende interreligiöse Bildung ist Offenheit, Achtung und Wertschätzung für andere Kulturen und Religionen (zum Folgenden: Schweitzer/Biesinger/Edelbrock 2011). Toleranz und Respekt sowie wechselseitige Anerkennung stellen zentrale Ziele für die pädagogische Arbeit dar. Sie gelten nicht erst ab dem Schulalter, sondern müssen in kindgemäßer Form von Anfang an auch die Arbeit in der Kita bestimmen.
Dazu gehört es, allen Kindern eine umfassende Begleitung im Prozess des Aufwachsens in der Pluralität zu geben, auch in religiöser Hinsicht. Eine solche Begleitung ist heute selbst für christliche Kinder nicht überall gesichert – vor allem in kommunalen Einrichtungen werden religionspädagogische Aufgaben nur von einem Teil der Einrichtungen wahrgenommen – mitunter wohl aufgrund der nicht zutreffenden Rechtsauffassung, dass eine religiöse Begleitung von Kindern in kommunalen Einrichtungen gar nicht zulässig sei. Eine kompetente religiöse Begleitung muslimischer Kinder wird in den Einrichtungen in aller Regel bislang nicht geboten.
Interreligiöse Bildung ist als Friedenserziehung zu begreifen und Friedenserziehung als interreligiöse Bildung. Beide zielen auf aktive und reflektierte Toleranz im Sinne wechselseitiger Anerkennung, von Respekt und Solidarität miteinander.
Konkret bedeutet dies, dass interreligiöse Bildung in der alltäglichen Praxis der Kita fest verankert werden muss. Das Bildungsangebot der Einrichtungen muss so ausgestaltet werden, dass es den Kindern möglich wird,
- Wissen über andere Religionen zu erwerben, um das, was sie häufig bei anderen Kindern in der Einrichtung wahrnehmen, überhaupt verstehen zu können.
- die Ausdrucks- und Praxisformen anderer Religionen durch eigenes Erleben kennenzulernen.
- Haltungen und Einstellungen zu entwickeln, die von Offenheit und Toleranz, Respekt und Anerkennung geprägt sind.
- auch in religiöser Hinsicht mit anderen Kindern zu kommunizieren und so eine religiöse Sprachfähigkeit über die Grenzen der eigenen Religionsgemeinschaft hinaus zu erwerben.
Gedanken-, Gewissens-und Religionsfreiheit
Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens-und Religionsfreiheit. (UN-Kinderrechtskonvention 1989, Art. 14)
Konkrete Ansätze
Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten (Schweitzer/Biesinger/Edelbrock 2011):
- Kindern und ihren Eltern gezielt Offenheit auch für deren Religion signalisieren sowie die Bereitschaft, über religiöse Fragen zu sprechen
- sensibel werden für religiöse Fragen von Kindern und das Kind in seiner eigenen Religiosität stärken
- religiöse Orientierungsbedürfnisse wahrnehmen und im pädagogischen Alltag bewusst aufnehmen, z. B. Kinderfragen nach Gott, nach Tod und Sterben
- Zeit und Raum dafür einplanen, die Kinder in ihrer eigenen religiösen Identitätsbildung zu unterstützen und sie zum interreligiösen Austausch hinzuführen
- Erfahrungen von Kindern und Familien vor allem im Blick auf religi-se Festzeiten mit allen Kindern thematisieren: Advent und Weih-nachten, aber ebenso Ramadan und Opferfest
- Religion und Religionen in der Kita alltäglich erfahrbar machen, z. B. Geschichten vorlesen oder erzählen und dabei den Kindern deutlich machen: „Das ist aus der Bibel, dem Buch der Christen.“, „Diese Ge-schichte steht im Koran, dem Buch der Muslime.“. Dabei kann auch sichtbar werden, dass wichtige Figuren wie Abraham, Mose und Jesus sowohl in der Bibel als auch im Koran vorkommen.
- Vernetzung mit dem Gemeinwesen auch in religiöser Hinsicht, etwa mit Kirchen- oder Moscheegemeinden
- Besuche und Erkundungen von Kirchen, Moscheen und Synagogen mit möglichst allen Kindern.
Viele Zugehörigkeiten
„Jeder Mensch hat viele Zugehörigkeiten. Jeder weist viele unterschiedliche Muster von Gemeinschaften auf, darin ist die wichtigste Gemeinsamkeit ein-geschlossen, die einer von allen geteilten Identität des Menschseins.“
(Sen 2007, S. 34)
In Leitbildern und Konzeptionen von Kitas sollte klar werden, dass alle Kinder in der Einrichtung gleichermaßen willkommen sind, gerade auch mit ihren unterschiedlichen, religiösen und kulturellen Prägungen. Darüber hinaus sollte deutlich werden, dass diese Offenheit auch auf wechselseitiges Kennenlernen und Verstehen, auf Toleranz und Wertschätzung zielt.
Fachkräfte sollten sich ihrer eigenen religiösen Einstellung und Haltung auch gegenüber anderen Religionen bewusst werden und sich um Toleranz und Wertschätzung auch dem religiös Fremden gegenüber bemühen. Hierzu gehört auch, die eigenen Kompetenzen, in Bezug auf Fragen des Christentums, des Islams und des Judentums zu erweitern.
Interreligiöse Bildung ist nicht ohne die Einbeziehung der Eltern und deren religiöser Kompetenz möglich. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die Rechte der Eltern, die keine religiöse Bildung wünschen, nicht verletzt werden.