Rezension Prof. Dr. Herbert Ulonska

Günther Gugel: Handbuch Gewaltprävention. Für die Grundschule und die Arbeit mit Kindern. Grundlagen – Lernfelder – Handlungsmöglichkeiten
Tübingen 2008, Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. / Wir stärken Dich e.V. ISBN 978–3–932444–22–7

Vorwort:
Neben kognitiven Fähigkeiten bedarf soziales Lernen eines Konflikte regelnden Raumes und eines gewaltfreien Miteinanders. Schule, hier die Grundschule als ein solcher Raum, erfordert eine ganzheitliche Wahrnehmung aller am Lernen Beteiligten: Lehrer, Schüler und Eltern ebenso wie der Schulstrukturen.

Das Lernfeld “Gewaltprävention in der Grundschule” wird in drei Bereiche gegliedert: Soziales Lernen fördern; Konflikte konstruktiv bearbeiten; in Gewaltsituationen handeln. Gewaltprävention wird nicht als zusätzliche Aufgabe verstanden, sondern als eine pädagogische Grundhaltung und damit als integraler Bestandteil einer “guten” Schule, in der sich Lehrende und Lernende wohl fühlen können. Günther Gugel vom Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. hat den Auftrag von Wir stärken Dich e.V. übernommen, dieses umfangreiche Handbuch zu schreiben. Intention und Ziel des Vereins und damit auch des Handbuches sind die Stärkung “selbstbewusster Kinder”. Mit diesem Handbuch gibt der Autor allen am Lernprozess in der Schule Beteiligten Hilfen für den konstruktiven Umgang mit Konfliktsituationen, für die Förderung von Konfliktkompetenz, für den respektvollen Umgang miteinander, für Toleranz gegenüber der Meinung anderer und für gewaltfreie Kommunikation. Dies ist dem Autor ausgezeichnet gelungen.

Der Ansatz im überblick (S. 8–16)
Fachwissenschaft (Thematische Orientierung) und Fachdidaktik (schulspezifische Orientierung) werden als Grundlagen der Darstellung und der dargebotenen Materialien vorangestellt. Beide Bereiche kommen im so genannten “Networking” zum Tragen: die handelnden Personen und die Handlungsfelder werden nicht isoliert sondern durch systemisches Denken und Lernen verbunden. In den “Schritten auf dem Weg zur Gewaltprävention” werden viele analytische Fragen und Impulse gegeben, um eine sinnvolle Vorklärung zu ermöglichen. Am Ende der Einführung werden der Umgang mit den Materialien und die elementaren Themen vorgestellt. Die Summe der Gedanken und Ideen machen es den beteiligten Personen am Lernprozess sehr leicht, mit dem Handbuch konstruktiv und erfolgreich umzugehen. Es ist kein Lehr– oder Lernbuch. Es ist vielmehr ein außerordentlich nützliches Hilfsmittel, das die Lehrenden bei der Gestaltung von Lernprozessen anregt und unterstützt.

Was ist Gewalt? (S. 17–44)
Nach der Einführung in das Konzept des Handbuches wird am Anfang sinnvoll in einem umfangreichen Durchgang geklärt, was unter Gewalt verstanden wird. Sehr übersichtlich werden zuerst das Grundwissen diskutiert und danach Materialien für das Lernfeld angeboten. Die verschiedenen Gewaltdefinitionen zeigen deutlich den Diskussionsbedarf. Dass auch “das Gewaltverständnis von Schülern” (S.22) angesprochen wird, was ja keineswegs dem der Erwachsenen entsprechen muss, ist zutreffend, um nicht die Generationen- und Genderfragen zu ignorieren. Der hier gegebene hilfreiche Literaturhinweis auf eine aktuelle Dissertation verweist zudem auch auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand des Handbuches. Der abschließende Abschnitt “Gewalt gegen Kinder” (S.23–28) fokussiert das Gewaltproblem auf das Handlungsfeld Schule. Die angebotenen Definitionen bei der Analyse der beobachtbaren Gewalt im Umgang mit den Kindern in der Schule sind sehr hilfreich. In dem sich anschließenden “Umgang mit den Materialien” werden diese einmal für Lehrende und Eltern zum anderen für Schüler unterschieden, was didaktisch höchst sinnvoll erscheint und ja auch im “Grundwissen” aufgezeigt wurde. Ebenso ist es hilfreich, dass am Anfang der Darstellung der Materialien diese schematisch vorgestellt werden, um bei der Gestaltung von Elternabenden oder Unterricht einen schnellen überblick zu erhalten.

Die “Materialien” (S. 33–44) bieten eine Fülle an Anregungen, die sicher auf die jeweilige Unterrichts- und Lernsituation bezogen werden müssen, aber bei didaktischem Geschick der Lehrenden intensive Lernprozesse in Gang setzen können. Die Vertiefung der Beobachtung von Gewalt unter Kindern erfolgt nun im Abschnitt “Gewalt in der Schule” (S.45-66). Mit einer überzeugenden Informationsbreite wird das Thema nach Grundwissen und den dazu gehörigen Materialien aufbereitet, was zur Kompetenz in der
Vermittlung entscheidend beiträgt.

Gewaltprävention in der Schule (S. 68-121) und im Elternhaus (S. 95–121)
Diese beiden Abschnitte richten sich an die Unterrichtenden und die Eltern. Die drei Grundlagen der Prävention, die primäre der vorbeugenden Arbeit, die sekundäre der Interventionsstrategien und die tertiäre der Konflikt regulierenden Nacharbeit werden an sieben Themenfeldern weiter im Blick auf eine präventive Schulkultur operationalisiert. Die Umsetzung kann allerdings nur im Diskurs aller Beteiligten entwickelt werden. Dafür werden unter “Überlegungen zur Umsetzung” (S.80-81) eine Fülle an vertiefenden Anregungen gegeben, die sehr gute Voraussetzungen für einen gelingenden Unterricht bieten, wieder unterstützt durch hilfreiche Materialien (S.84–93). Dass auch die “Gewaltprävention im Elternhaus” (S.95–121) so intensiv behandelt wird und der häufig auftretenden Tabuisierung nicht unterliegt, ist lobend zu erwähnen: denn ohne diesen Aspekt kann Schule nur ohnmächtig reagieren und kaum kompensatorisch wirken. Im Teil “Grundwissen” werden aus der jüngsten Literatur umfangreiche Reflexionsimpulse gegeben und in den Materialien überzeugend vertieft. Es liegt ein sehr gutes Abschlusskapitel vor den nun folgenden Lernfeldern vor.

Lernfelder und Ansatzpunkte (S. 123-523)
In diesem umfangreichen vierten Kapitel werden auf 400 Seiten eine Fülle an Informationen und Materialien aufbereitet, die den einführenden Teil nun auf schulische Handlungsfelder beziehen. Drei Gebiete, die sinnvoll nacheinander gestaltet werden, sind: “Soziales Lernen” (S.123-232); “Konfliktbearbeitung” (S. 233–374) und “In Gewaltsituationen handeln” (S.375– 523).

Drei der insgesamt 14 (!) Lern- und Themenfelder sollen exemplarisch herausgegriffen und besprochen werden:

4.1.4 Resilientes Verhalten fördern (S. 209–232);
4.2.4 Regeln etablieren (S. 319–346) und
4.3.4 Sexualisierte Gewalt (S.455–490).
4.1.4 Resilientes Verhalten fördern

“Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen, wobei dieser Prozess das ganze Leben hindurch dauert.” (S. 211)

Die Aufnahme dieser erst in jüngster Zeit verstärkt reflektierten Fragestellung in das Handbuch ist nur zu unterstützen. Resilienzforschung (S. 211-213) relativiert die zu einseitige Fokussierung auf den Opferstatus und fragt nach den selbst heilenden und bewahrenden Kräften im Umgang mit Konflikten. Die Erwähnung der möglichen “positiven” Seite dieses Umgangs mit Konflikten, durch die Chancen zur Reifung eröffnet werden, ist sehr zu begrüßen.

“Resiliente Verhaltensweisen haben sich als äußerst wirksame Schutzfaktoren gegen delinquentes und gewalttätiges Verhalten erwiesen. Sie bewusst und gezielt zu fördern, ist deshalb ein zentraler Ansatz jeder Gewaltprävention” (S.210).

Konfliktvermeidung und überbehütung sind im Wachstumsprozess der Kinder nicht unbedingt erstrebenswert. Darum wird die Reflexion über die Stärkung des kindlichen Selbst ohne diesen Forschungszweig nicht mehr angemessen behandelt werden können. (Vgl. dazu “Was Resilienz fördert” (S.214) und “Resilientes Verhalten lernen” (S. 215–216).) Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit Konflikten konfrontiert werden, ist hoch. Solche Konflikte zu verneinen, zu vermeiden oder zu verleugnen, würde solchermaßen “behüteten” Kindern eine Welt “vorgaukeln”, die es “leider” nicht gibt. So gehören Schutzfaktoren zur primären Präventionsarbeit, damit Kinder konfliktfähig werden und für sich selbst sorgen lernen.

Als ein Risikofaktor werden Stresssituationen genannt, die schon Kinder belasten. In der Tabelle “Was Kindern Stress macht” (S. 219) werden Ereignisse genannt, die uns Erwachsene sehr nachdenklich machen müssen. Als Schutzfaktor wird exemplarisch der Freundeskreis benannt. Ein großer Teil der sozialen Bezüge der Kinder werden mit Freunden er– und verlebt. Vier Medien werden für Eltern und Lehrkräfte angeboten, sechs für den Unterricht. Das Medium M 4 “Seelische Grundnahrungsmittel” wird mit einer sehr engagierten Frage eröffnet: “Was braucht ein Mensch, der Gewalt nicht braucht?” Die Medien für den Unterricht (M5 – M10) fordern die Schüler heraus, über Ihre Gaben und Fähigkeiten nachzudenken und einmal nicht nur zu hören, was sie alles (z.B. in der Schule) nicht können.

4.2.4 Regeln etablieren
War im Nachgang zu der 68-er Generation Erziehung fast zu einem Schimpfwort geworden, so hat sich in der Pädagogik schon länger ein Wertewandel vollzogen. Um so mehr ist zu begrüßen, dass im Handbuch die Normen- und Wertefrage so ausführlich wieder aufgenommen ist: “Dieser Baustein beschreibt die Bedeutung von Werten und Normen für eine effektive Gewaltprävention und zeigt, wie Regeln des Umgangs und Zusammenlebens auf verschiedenen Ebenen gefunden und implementiert werden können” (S. 319). Auch eine pluralistische Gesellschaft bedarf der Regeln, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen. Ein Leben in der Beliebigkeit im Handeln und die Einforderung der Individualisierung aller Lebensbereiche diffamieren eine Werteerziehung als reaktionär. So ist es zu begrüßen, dass der Autor sehr deutlich “Werteerziehung und Gewaltprävention” vereint. Ebenso ist zu begrüßen, dass nicht nur der schulische Alltag durch vereinbarte Regeln in vernünftigen Bahnen gelenkt wird, sondern auch “Universale Werte” (S.323) wie die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte” thematisiert werden. Das lässt die Schüler “über den Zaun blicken” – u.a. auch bezogen auf Migration und Integration.

Schule als sozialer Ort des Lebens und Lernens kann bei der Wertevermittlung und der Akzeptanz von Regeln sehr viel leisten. Doch die Familie darf dabei nicht aus der Verantwortung entlassen werden, so die zugrunde liegende These des Autors. Das zeigt sich auch in der Fülle der angebotenen Medien. Bei den Medien für Eltern geht es schwerpunktmäßig um die Kinderrechte, bei den Unterrichtsmedien um Regeln für Schule, Klasse und Unterricht. So kann M 16 als letztes Medium zu recht fragen: “Was ist eine gute Schule?”

Wieder ist der Ideenreichtum in den 16 angebotenen Medien besonders zu unterstreichen!

4.3.4 Sexualisierte Gewalt
Das Verständnis von sexualisierter Gewalt als Form der Gewaltausübung und Gewalterfahrung kann heute nicht mehr tabuisiert werden, auch wenn Sexualität immer noch zu den großen Tabus in unserer Gesellschaft gehört. So hat sich in verdienstvoller Weise das Handbuch auch dieser Thematik angenommen.

Eröffnet wird das Kapitel mit der Frage nach der Prävention. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Schule als Ort präventiven Handelns. Es folgen Definitionen, weil sich immer noch keine einheitliche Definition in der Forschung durchgesetzt hat. Zur Definition gehören auch Daten und Fakten, um Gegnern und Leugnern widersprechen zu können (z.B. der “Missbrauch des Missbrauchs” in den 90–er Jahren).

Besonders wichtig ist der Abschnitt über die Täterstrategien, weil diese helfen können, gefährdete Kinder präventiv zu informieren. Dass die Täter/Täterinnen immer jünger werden, ist erst in den letzten Jahren wahrgenommen worden. Vor allem der Anteil der minderjährigen Täter hat sich verdoppelt. Hier muss die Präventionsarbeit vor allem in den Schulen verstärkt werden, denn die Folgen des Missbrauchs dürfen nicht wegen des jugendlichen Alters dieser Täter/Täterinnen relativiert werden.

Was noch aussteht ist eine verlässliche Evaluation der Präventionsprogramme. Darauf verweist der Autor des Handbuchs selbst. Er betont (S.469), dass Vorbeugeprogramme kritisch betrachtet werden müssen.

Insgesamt liegt ein - für ein Handbuch – angemessener überblick zum Thema vor, der durch ein sehr reichhaltiges und informatives Angebot an Medien vertieft wird. Sehr zu begrüßen ist die Aufnahme des Aspektes der „Mythen über sexuelle Gewalt“ (S. 481). Da diese Mythen auch unter Lehrern/ Lehrerinnen verbreitet sind (S. 480), ist eine Auseinandersetzung mit diesem Thema für gelingende Präventionsarbeit dringend erforderlich.

Die Medien für die Kinder heben besonders das Selbstbestimmungsrecht auf den eigenen Körper hervor. Hier kann Schule durch Einübung hoffnungsvolle präventive Arbeit leisten. Eine umfangreiche Literaturliste zu den einzelnen Kapiteln findet sich im Anhang. Fast alle aufgeführten Titel sind nicht älter als 10 Jahre, was für die Aktualität der Inhalte spricht. Auch die Internet-Adressen am Schluss bieten eine gute weiterführende Hilfe für eine über die angegebene Literatur hinausgehende breitere Information. Es liegt ein erstaunlich breit gefächertes und kompetent gestaltetes Handbuch vor. Die Bildauswahl spricht an, die didaktische Aufbereitung der Inhalte überzeugt.

Günther Gugel ist ein Werk gelungen, dem eine große Verbreitung zu wünschen ist.

Prof. Dr. Herbert Ulonska

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