Die Verhinderung und Reduzierung von Gewalt ist das Ziel von Gewaltprävention. Doch was ist unter Gewalt genau zu verstehen?
Die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung
„Gewalt“ ist ein Phänomen, das nicht klar definiert und abgegrenzt ist, weder in der Wissenschaft, noch im Alltag. In der öffentlichen Diskussion werden oft verschiedene Dinge gleichzeitig als Gewalt bezeichnet: Beschimpfungen, Beleidigungen, Mobbing, Gewaltkriminalität (Raub- und Morddelikte), Vandalismus, gewalttätige Ausschreitungen bei Massenveranstaltungen, fremdenfeindliche Gewalt gegen Menschen usw.
Auch im wissenschaftlichen Bereich gibt es keine allgemein akzeptierte Definition und Beschreibung von Gewalt. Mehrere Begriffsbestimmungen und Theoriestränge stehen weitgehend unverbunden nebeneinander (etwa im Bereich der Aggressionsforschung). Je nachdem, ob die Ursachen und Bedingungen von Gewalt eher beim Individuum oder in gesellschaftlichen Lebenslagen gesehen werden, werden unterschiedliche Verantwortlichkeiten angesprochen. Gewaltprävention hat also mit dem Dilemma zu tun, dass sie einerseits auf vorfindbare Gewalt reagieren muss, andererseits aber nur wenig oder kaum auf präzise Analysen, Beschreibungen und Definitionen ihres Gegenstands zurückgreifen kann. Um einen praktikablen Ausweg zu finden, grenzen viele Projekte oder Ansätze der Gewaltprävention Gewalt auf den Bereich der physischen Gewaltanwendung ein. Dies erscheint in der Praxis der Gewaltprävention für die Durchführung konkreter Projekte vor Ort als legitim und sinnvoll. Gegen eine solche Reduktion der Gewalt auf körperliche Gewalt gibt es allerdings auch Einspruch, da dadurch viele Bereiche der Gewalt ausgeklammert würden.
Gewaltbegriffe
Gewalt bedeutet umgangssprachlich Schädigung und Verletzung von Personen oder Sachen. Der Begriff „Gewalt“ wird dabei häufig auch synonym zu dem Begriff „Aggression“ gebraucht, bzw. als Teilmenge von Aggression verstanden. Dies rührt daher, dass sich die Begriffe Aggression und Gewalt nicht klar voneinander trennen lassen. Mit Aggression werden häufig minder schwere Verletzungen oder die Übertretung von sozialen Normen verstanden, während mit Gewalt schwere Verletzungen und Übertretung von Geboten und Gesetzen bezeichnet werden. In diesem Verständnis ist Aggression dann eine Vorform von Gewalt. Allerdings beinhaltet der Begriff Aggression immer auch positive Lebenskräfte und Energien.
Der Gewaltbegriff von Johan Galtung
Der Friedensforscher Johan Galtung unterscheidet drei Typen von Gewalt: personale, strukturelle und kulturelle Gewalt. Bei personaler Gewalt sind Opfer und Täter eindeutig identifizierbar und zuzuordnen. Strukturelle Gewalt produziert ebenfalls Opfer. Aber nicht Personen, sondern spezifische organisatorische oder gesellschaftliche Strukturen und Lebensbedingungen sind hierfür verantwortlich. Mit kultureller Gewalt werden Ideologien, Überzeugungen, Überlieferungen und Legitimationssysteme beschrieben, mit deren Hilfe direkte oder strukturelle Gewalt ermöglicht und gerechtfertigt, d.h. legitimiert wird. Galtung sieht einen engen Zusammenhang zwischen diesen Gewaltformen und beschreibt das Dreieck der Gewalt als Teufelskreis, der sich selbst stabilisiert, da gewalttätige Kulturen und Strukturen direkte Gewalt hervorbringen und reproduzieren. Der Gewaltbegriff Galtungs zeigt, dass es nicht ausreicht, Gewalt lediglich als zwischenmenschliche Handlung – als Verhalten – zu begreifen. Es müssen auch religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Legitimationssysteme und auch gesellschaftliche Strukturen berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Gewalt als komplexes Phänomen zu verstehen.
Der Gewaltbegriff der Weltgesundheitsorganisation
Die WHO hat in ihrem 2002 veröffentlichen „World Report on Violence and Health“ eine detaillierte Typologie von Gewalt vorgelegt, in der Gewalt verstanden wird als: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, die entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt.“ Diese Definition umfasst zwischenmenschliche Gewalt ebenso wie selbstschädigendes oder suizidales Verhalten und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Staaten.
Eine konkrete Typologie von Gewalt bietet einen analytischen Bezugsrahmen und identifiziert konkrete Ansatzpunkte für Gewaltprävention. Sie gliedert Gewalt in drei Kategorien, die darauf Bezug nehmen, von wem die Gewalt ausgeht bzw. zwischen wem Gewalt stattfindet: Gewalt gegen die eigene Person, interpersonelle Gewalt und kollektive Gewalt. Als Gewalt gegen die eigene Person gelten suizidales Verhalten und Selbstschädigung. Die interpersonelle Gewalt gliedert sich in Gewalt in der Familie und unter Intimpartnern sowie von Mitgliedern der Gemeinschaft ausgehende Gewalt. Kollektive Gewalt bezeichnet die gegen eine Gruppe oder mehrere Einzelpersonen gerichtete instrumentalisierte Gewaltanwendung durch Menschen, die sich als Mitglieder einer anderen Gruppe begreifen und damit politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ziele durchsetzen wollen. Hierunter zählen auch Bürgerkriege und Kriege.
Kulturelle Gewalt
Unter „kultureller Gewalt“ wird jede Eigenschaft einer Kultur bezeichnet, mit deren Hilfe direkte oder strukturelle Gewalt legitimiert werden kann. Diese Form der Gewalt tötet nicht oder macht niemandem zum Krüppel, aber sie trägt zur Rechtfertigung bei. Ein typisches Beispiel hierfür ist die rechtsextreme Ideologie der Ungleichheit, deren extremste Form die Theorie vom „Herrenvolk“ darstellt.
Vgl. Johan Galtung: Cultural Violence. In: Journal of Peace Research, vol. 27, no. 3 / 1990, S. 291 ff.
Funktionen von Gewalt
Gewalt wird nicht einfach angewendet, sondern kann auch unter dem Aspekt betrachet werden, welche Aufgaben und Funktionen sie erfüllen soll. Hierauf weist besonders die Humanethnologie hin und sieht als spezifische Funktionen:
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die Verteidigung von Besitz und sozialen Bindungen (territoriale Aggression);
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die Anwendung bei der Abweichung von Normen (Norm erhaltende Aggression);
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die Verteidigung von Rangpositionen;
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den Schutz der Nachkommenschaft („Brutverteidigung“);
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die erkundigende bzw. explorative Aggression, die Grenzen austestet. Bei Kindern und Jugendlichen kann die Funktion von Gewalt u.a. auch verstanden werden als
eine spezifische Kommunikationsform um auf Problemlagen aufmerksam zu machen; -
Demonstration von Männlichkeit, der eine spezifische Definition von„Mann sein“ zugrunde liegt;
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ein Mittel gegen Langeweile in einer Umwelt, die als erlebnisarm erlebt wird;
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als Gegengewalt, die gegen eine als gewaltsam erlebte Umwelt eingesetzt wird.
Weitere Differenzierungen
Um Gewalt sinnvoll fassen zu können, muss nicht nur der jeweilige Kontext berücksichtigt werden, sondern auch die Frage der Motivation und Intention. Gewaltausübung kann so unterschieden werden in
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beabsichtigte Gewaltausübung, die den einzigen Zweck hat, den anderen bewusst zu verletzen;
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instrumentelle Ausübung, die Gewalt bewusst als Mittel zum Zweck einsetzt;
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nicht beabsichtigte, aber als Nebeneffekt des eigenen Handelns in Kauf genommene Verletzung anderer.
Diese Unterscheidungen sind für Gewaltprävention äußerst relevant, da sie verdeutlichen dass nicht so sehr Handlungen, sondern vielmehr die Absichten und Motive den eigentlichen Ansatzpunkt für Gewaltprävention darstellen sollten.
Systematische Fragen an einen Gewaltbegriff
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Wer übt Gewalt aus? Dies ist die Frage nach dem/den Täter/n.
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Was geschieht, wenn Gewalt ausgeübt wird? Dies ist die Frage nach den Tatbeständen und den Abläufen einer als Gewalt verstandenen Handlung.
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Wie wird Gewalt ausgeübt? Dies ist die Frage nach Art und Weise der Gewaltausübung und den dabei eingesetzten Mitteln.
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Wem gilt die Gewalt? Dies ist die Frage nach den menschlichen Opfern von Gewalt, denjenigen, die Gewalt erfahren, erleiden oder erdulden müssen.
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Warum wird Gewalt ausgeübt? Dies ist die Frage nach den allgemeinen Ursachen und konkreten Gründen von Gewalt.
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Wozu wird Gewalt ausgeübt? Dies ist die Frage nach Zielen, Absichten, Zwecken und möglichen Motiven von Gewalt.
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Weshalb wird Gewalt ausgeübt? Dies ist die Frage nach den Rechtfertigungsmustern und Legitimationsstrategien von Gewalt.
Peter Imbusch: Der Gewaltbegriff. In: Wilhelm Heitmeyer /John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 34.
Literatur: Galtung, Johan: Kulturelle Gewalt. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Der Bürger im Staat. (43) 2/1993.
Heitmeyer, Wilhelm/John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch Gewaltforschung. Wiesbaden 2002.