Orte
Sexuelle Kindesmisshandlung kommt vor allem in der Familie und im Bekanntenkreis vor. Nur bei einem kleinen Teil handelt es sich um Fremdtäter.
Häufigkeit
Während die Auswertung der von ca. fünf Jahren vorliegenden Untersuchungen ein Ausmaß von 15-33 % bei den Mädchen und 6-9 % bei den Jungen darstellte, fassen neuere Publikationen die aktuell vorliegenden Untersuchungen dahingehend zusammen, dass 10-15 % der Frauen und 5-10 % der Männer bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren mindestens einmal einen sexuellen Kontakt erlebt haben, der unerwünscht war oder durch die „moralische“ Übermacht einer deutlich älteren Person oder durch Gewalt erzwungen wurde. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass etwa jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge Opfer sexualisierter Gewalt wird. Die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes registriert jährlich ca. 16.000 angezeigte Fälle. Viele Fälle kommen jedoch nicht zur Anzeige. Die Dunkelziffer ist sehr hoch.
Alter der Opfer
Forschungsergebnisse belegen, dass die am häufigsten betroffene Altersgruppe Kinder im Alter zwischen 10-14 Jahren sind. Häufig beginnt der Missbrauch schon im Vorschulalter. Sogar Säuglinge werden missbraucht. Aufgedeckt wird der Missbrauch jedoch – wenn überhaupt – oft erst viel später.
Dauer
Untersuchungen zeigen, dass es sich aus Opfersicht bei ca. 60-70 % der Fälle um einmalige Übergriffe handelt. Dieses (auch in ausländischen Studien bestätigte) Verhältnis von 2:1 von einmaligen zu mehrmaligen sexuellen Übergriffen trifft für Mädchen und Jungen gleichermaßen zu. Erwartungsgemäß ist dieses Verhältnis von dem Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter bzw. Täterin abhängig: Unbekannte Täter und Täterinnen begehen eine solche Tat in der Regel nur einmal mit dem gleichen Kind, während ein Drittel bis die Hälfte der Täter und Täterinnen aus dem Bekanntenkreis sexuelle Gewalt mehrfach an einem Opfer ausüben. Begann der Missbrauch vor dem 10. Lebensjahr, so betrug die durchschnittliche Dauer über 6 Jahre. Setzten die ersten Übergriffe nach dem zehnten Lebensjahr ein, so dauerten sie im Durchschnitt ca. 4 Jahre.
Mädchen und Jungen
Derzeit geht man davon aus, dass es sich bei den Kindern mit sexueller Gewalterfahrung zu ca. 70-80 % um Mädchen und zu ca. 20-30 % um Jungen handelt.
Täter
Vor allem Männern sind die Täter. In ca. 6-10 % der Fälle werden Frauen als Täterinnen angenommen. Bei Jungen als Opfer erhöht sich der Prozentsatz auf bis zu 20 % weibliche Täterinnen. Erwachsene Täter sind in der Regel Wiederholungstäter. Die Täter sind ganz „normale“, sozial angepasste und meist unauffällige Menschen aus allen sozialen Schichten und Berufsgruppen (in letzter Zeit richtet sich die Aufmerksamkeit vermehrt auf Berufe, in denen mit Kindern gearbeitet wird). Die Täter und Täterinnen stammen aus allen gesellschaftlichen und sozialen Schichten. Auch alle Altersgruppen sind vertreten, was das Vorurteil vom bad old man widerlegt. Das Bild des Täters und der Täterin als Fremden, das häufig besonders von den Medien gezeichnet wird, ist zu korrigieren. Fremdtäter bei Männern sind ca. 33 %, bei Frauen ca. 27 %. Der größte Teil der Täter und Täterinnen stammt aus dem sozialen Nahbereich der Opfer, ist diesen bekannt und im täglichen Umgang vertraut. Täterinnen sind zu ca. 23 % Angehörige, zu ca. 50 % Bekannte, Täter zu ca. 17 % Angehörige, zu ca. 50 % Bekannte. Das Durchschnittsalter der Täter liegt bei ca. 25 Jahren, das der Täterinnen bei ca. 30 Jahren. Es wird von bis zu 80 % Tätern und von bis zu 20 % Täterinnen ausgegangen.
Täterstrategien
Sehr selten kommt es zu sofortigen sexuellen Übergriffen, eher wird das Kind „vorbereitet“, indem es bevorzugt wird, Geschenke erhält und allmählich vom Rest der Familie / von der Mutter emotional isoliert wird. Es entsteht eine enge und starke Beziehung, in der erst nach und nach die zunächst positiv empfundenen Begünstigungen (auch „Kuscheln“ etc.) mit sexuellen Handlungen verknüpft werden. Auch Fremdtäter entwickeln spezifische Strategien. Hierzu gehören das Ausspähen von Orten z.B. Spielplätze, um „passende“ Kinder auszusuchen, die Vorbereitung der Kontaktsituation und die Anbahnung erster Kontakte usw.
Psychodynamik
Die Psychodynamik sexueller Kindesmisshandlung ist geprägt von den Grundgefühlen Vertrauensverlust, Angst, Schuld und Scham, Ohnmacht, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung, Rückzug auf sich selbst und Sprachlosigkeit. Es „verschlägt den Opfern die Sprache“, daher finden sich so selten verbale Hinweise auf sexuellen Kindesmissbrauch. Zentrales Moment ist der enorme Geheimhaltungsdruck (u.a. durch diverse Drohungen des Täters) und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer. Es besteht ein starker Loyalitätskonflikt, da die Kinder den Täter oft gleichzeitig lieben und fürchten. Dem Täter gelingt es fast immer dem Kind das Gefühl zu vermitteln, es sei selber Schuld am Missbrauch.
Auswirkungen
Sexueller Kindesmissbrauch hat gravierende unmittelbare Folgen und Langzeitfolgen, deren Ausmaß von verschiedenen Faktoren bestimmt wird: Grad der Gewaltanwendung, Art und Schwere des Missbrauchs, Grad der Nähe zwischen Täter und Opfer, Reaktion auf die Aufdeckung durch die Umgebung u.a. Häufige Folgen sind langfristig eine gestörte Identitätsentwicklung, gestörte Sexualität und Beziehungsunfähigkeit, sowie seelische Erkrankungen. Sexualisierte Gewalt führt zur Verletzung des Körpers und der Seele und hinterlässt tiefe Spuren im Erleben und Erinnern vieler Mädchen und Jungen. Jahre lang, oft ein ganzes Leben, leiden sie unter dem traumatischen Erlebnis.
Erkennen/Diagnose
Die Opfer schweigen aus verschiedenen Gründen (Angst, Geheimhaltungsdruck, Loyalitätskonflikt, Schuld- und Schamgefühlen u.a.). Daher sind nonverbale, indirekte Hinweise, Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen und (seltener) körperliche Symptome, oft die einzige Diagnosemöglichkeit. Es gibt kein charakteristisches Missbrauchssyndrom! Altersunangemessenes Sexualverhalten ist ein sehr wichtiger, aber nicht völlig spezifischer Hinweis. Die zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Symptome sind als Bewältigungsversuch anzusehen und für die Kinder überlebensnotwendig.
Geheimhaltung
Die innere Bindung zum Täter/zur Täterin, die Liebe des Kindes „trotz allem“ zu der ihm meist nahestehenden Person, trägt zur Verwirrung und Geheimhaltung von Seiten des Kindes bei. Auch bei Fremdtätern spielt die Forderung der Geheimhaltung, häufig verbunden mit Drohungen, eine wichtige Rolle.
Glaubwürdigkeit
Kinder erfi nden extrem selten Geschichten über sexuelle Kontakte zu Erwachsenen – dahingehende Äußerungen oder Andeutungen sind immer ernst zu nehmen. Nach zahlreichen gerichtspsychiatrischen Untersuchungen sind Kinder sehr glaubwürdige Zeugen.
Aufdeckung
Die Umgebung eines Missbrauchsopfers reagiert hilfl os, ungläubig, panisch oder aggressiv auf den Verdacht oder eine Aufdeckung: das Kind unternimmt oft viele vergebliche Versuche Erwachsenen seine Not auf nonverbaler oder symbolischer Ebene „mitzuteilen“ (ohne „das Geheimnis zu verraten“). Selbst bei den eher selteneren konkreten und klaren Aufdeckungen wird ihm/ihr oft nicht geglaubt. Der Verdacht und erst recht die Aufdeckung lösen eine enorme Krise, Ratlosigkeit und Panik bei allen Beteiligten aus (leider zu häufi g auch bei den beteiligten Professionellen!).
Intervention
Die Intervention bei Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch muss gutüberlegt und durchdacht sein – niemals überstürzt handeln. Es ist immer eine Vernetzung und Koordination verschiedener Berufsgruppen nötig (Stichwort „multiprofessionelle Kooperation“), damit Kinderschutz, rechtliche Maßnahmen und Therapie integriert und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Deshalb ist es sinnvoll frühzeitig die einschlägigen Beratungsstellen einzuschalten. Müssen Kinder schnell vor weiteren Verletzungen geschützt werden kann auch eine Anzeige hilfreich sein.
Medizinische Untersuchung
Die medizinische Untersuchung von Missbrauchsopfern ist nicht zwangsläufig erneut traumatisierend, wenn sie qualifi ziert und einfühlsam durchgeführt wird. Sie hat jedoch das Potential eines schädigenden und grenzüberschreitenden Eingriffs und erfordert spezielle Kenntnisse und Erfahrung. Mit guter Dokumentation kann sie die Notwendigkeit von Wiederholungsuntersuchungen reduzieren. Das Fehlen körperlicher Befunde schließt die Möglichkeit eines sexuellen
Missbrauchs niemals aus!
Quellen: B. Herrmann (1998) Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmissbrauch. Unveröffentl. Manuskript, 2. ergänzte Aufl . Kassel, modifiziert nach Kempe 1979 und Sgroi 1982. www1.anti-kinderporno.de/index.
php?id=113 www.kindesmisshandlung.de www.schulische-praevention.de www.muenster.org/zart-bitter/praevention.htm