Resilientes Verhalten

Biegen statt brechen – Ergebnisse der Resilienzforschung

Ein relativ neuer und noch wenig bekannter und beachteter Ansatz zur Förderung und Unterstützung kindlicher Entwicklung in schwierigen Situationen bietet die Resilienzforschung.(1) Der Begriff Resilienz stammt aus der Baukunde und beschreibt dort die Biegsamkeit von Material. Er lässt sich am Besten mit „biegen statt brechen“ umschreiben. Gewaltprävention und Gewaltforschung beschäftigt sich häufig mit den negativen Folgen von schlimmen Kindheitserfahrungen und Traumatisierungen. In den letzten Jahren hat sich jedoch im Rahmen der Resilienzforschung die Blickrichtung verändert. Forscher interessieren sich zunehmend für jene Menschen, die an seelischen Belastungen nicht zerbrechen, sondern daran wachsen: „sie gedeihen trotz widriger Umstände“ so der Titel eines großen internationalen Kongresses 2005.(2)

Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen, wobei dieser Prozess das ganze Leben hindurch andauert.

Die Fragestellung der Resilienzforschung lautet also: warum können bestimmte Menschen oder Menschengruppen besser mit Schwierigkeiten und belastenden Situationen umgehen als andere, warum können sie Schicksalsschläge“ und traumatische Erlebnisse so verarbeiten, dass sie nicht aus der Bahn geworfen werden? Dabei ist das Ziel protektive Faktoren identifizieren und entwickeln zu können. Vorhandene Fähigkeiten und Kompetenzen weiter zu fördern und zu stärken, die Selbstheilungskräfte und sozialen Netzwerke zu aktivieren und somit „schützende“ Faktoren und Beziehungen entwickeln und stabilisieren zu können, steht im Mittelpunkt der Resilienzforschung. Resilienzforschung ist nicht nur im westlichen Kulturkreis angesiedelt und auch nicht nur auf diesen bezogen.

Während herkömmliche Ansätze der Gewaltprävention reaktiv sind und unerwünschtes Verhalten verhindern sollen, geht der Ansatz der Entwicklung der „seelischen Stärke“ davon aus, dass Resilienz in jedem Lebensalter erlernt werden kann. Denn Resilienz ist mehr als Anpassung an widrige Verhältnisse und mehr als pures Durchstehen oder Überleben. Resilientes Verhalten zeigt ein Mensch nicht trotz, sondern wegen dieser widrigen Verhältnisse.

Resilienzforschung weist darauf hin, dass Menschen nicht einfach Produkt ihrer Umstände oder ihrer Sozialisation sind, sondern sich auch aus eigener Kraft entwickeln können. Mit ihren Aussagen und Erkenntnissen, dass auch schwerwiegende frühkindliche Beeinträchtigungen wie Vernachlässigung oder Misshandlungen nicht zu späteren gesundheitlichen und psychischen Problemen führen müssen, steht Resilienzforschung im Gegensatz zu sog. „Bindungsforschern“, die die Wichtigkeit frühkindlicher Erlebnisse für die spätere Lebensbewältigung herausstellen.(3)

Resilienzforschung untersucht schwerpunktmäßig drei Bereiche:(4)

  • wie ist Kindern eine gesunde Entwicklung möglich, obwohl sie mehrfach vorhandenen Risikofaktoren wie Armut, Vernachlässigung, Misshandlung oder alkoholkranken Eltern ausgesetzt sind?
  • warum zerbrechen Menschen nicht an extremen Stressbedingungen?
  • warum und wie sind Menschen in der Lage sich von traumatischen Erlebnissen (Gewalterfahrungen, Naturkatastrophen, Kriegserlebnissen, Tod eines nahe stehenden Menschen) relativ schnell zu erholen?

„Die Annahme, dass sich ein Kind aus einer Hochrisikofamilie zwangsläufig zum Versager entwickelt, wird durch die Resilienzforschung widerlegt.“(5) Resiliente Kinder verfügen über Schutzfaktoren, welche die negativen Auswirkungen
widriger Umstände abmildern:

  • Sie finden Halt in einer stabilen emotionalen Beziehung zu Vertrauenspersonen außerhalb der zerrütteten Familie. Großeltern, ein Nachbar, ein Lieblingslehrer, der Pfarrer oder auch Geschwister bieten vernachlässigten oder misshandelten Kindern einen Zufluchtsort und geben ihnen die Bestätigung, etwas wert zu sein. Diese Menschen fungieren als soziale Modelle, die dem Kind zeigen, wie es Probleme konstruktiv lösen kann.
  • Weiterhin wichtig ist, dass einem Kind, das im Elternhaus Vernachlässigung und Gewalt erlebt, früh Leistungsanforderungen gestellt werden und es Verantwortung entwickeln kann. Zum Beispiel indem es für kleine Geschwister sorgt oder ein Amt in der Schule übernimmt.
  • Auch individuelle Eigenschaften spielen eine Rolle: Resiliente Kinder verfügen meist über ein „ruhiges“ Temperament, sie sind weniger leicht erregbar. Zudem haben sie die Fähigkeit, offen auf andere zuzugehen und sich damit Quellen der Unterstützung selbst zu erschließen. Und sie besitzen oft ein spezielles Talent, für das sie die Anerkennung von Gleichaltrigen bekommen.

Resilienz ist nicht Schicksal, sondern kann erlernt werden. Die Amerikanische Psychologenvereinigung (APA) schickt deshalb speziell geschulte Psychologen in die Grundschulen, um Kindern beizubringen, wie sie mit den unvermeidlichen Widrigkeiten des Lebens am besten fertig werden. Sie trainieren die Kinder in resilientem Verhalten. Das Programm, das über das übliche soziale Kompetenztraining hinausgeht, will Kindern helfen, mit alltäglichen Stresssituationen wie Schikane, schlechten Noten oder Enttäuschungen umzugehen, aber auch vor schwerwiegenderen Problemen wie Vernachlässigung, Scheidung der Eltern oder Gewalterfahrungen nicht zu kapitulieren. Beigebracht werden den Kindern die Kernpunkte der Resilienz:

  • Suche dir einen Freund und sei anderen ein Freund.
  • Fühle dich für dein Verhalten verantwortlich.
  • Glaube an dich selbst.(6)

Eine unbedingte Voraussetzung und Grundlage für die Herausbildung von Resilienz ist die Zugehörigkeit zu einem größeren Verbund von Menschen, der über die Familien hinausgeht. Diese wird jedoch zunehmend durch den Prozess der Modernisierung und Individualisierung in Frage gestellt. Um günstige Bedingungen für Resilienz entwickeln zu können, ist die Entwicklung von Gemeinwesen, Freundeskreisen, Nachbarschaft oder religiösen Gemeinschaften und konstruktiven Gruppen notwendig.

Das Resilienzkonzept steht im Kontext von ressourcenorientierten Zugängen, geht aber darüber hinaus, indem es nicht nur die positiven Ressourcen sieht, sondern auch die gemachten schlimmen Erfahrungen anerkennt und beides miteinander in Beziehung setzt. Es ermöglicht für die Gewaltprävention neue positive Zugänge, die eine hohe Wirkung versprechen. Das Resilienzkonzept darf jedoch nicht als Freibrief für die Politik verwendet werden („die individuellen Stärken werden sich schon durchsetzen“), sondern kann als Rahmen für effektive Präventionsarbeit verstanden werden, den es auszufüllen und zu stützen gilt. Auch das UNESCO Konzept einer schützenden Umwelt (protective environment) greift diesen Ansatz auf.

Anmerkungen

1) Vgl. Günther Opp / Michael Fingerle / Andreas Freytag (Hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. Ernst Reinhardt Verlag. München / Basel 1999.
2) Vgl. Corinna A. Hermann: Veranstaltungsbericht: „Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände“. Internationaler Kongress vom 09.02. bis am 12.02.05 in Zürich. Vgl. http://www.systemagazin.de/berichte/hermann_resilienzkongress.php.
3) Vgl. Rosmarie Welter-Enderlin in: Psychologie heute, 9/2005, S. 26.
4) Vgl. Ursula Nuber: Resilienz: Immun gegen das Schicksal? In: Psychologie heute. 9/2005, S. 21f.
5) Emmy Werner in: Psychologie heute. 9/2005, S. 22.
6) Psychologie heute. 9/2005, S. 23. Günther Gugel: Gewalt und Gewaltprävention. Tübingen 2006, S. 176-179.

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