Soziale Wahrnehmung

Kulturen prägen die Wahrnehmung

Die Amerikaner zählen anders

Sie bestellen per Handzeichen in einem Restaurant drei Cola. Der Kellner bringt Ihnen jedoch nur zwei. Was ist passiert? Wenn wir mit den Fingern Zahlen darstellen, so benutzen wir den Daumen für die Zahl eins; Daumen und Zeigefinger für zwei; Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger für drei; Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger für vier und die gesamte Hand für fünf. Die Amerikaner zählen anders: Zeigefinger für eins; Zeigefinger und Mittelfinger für zwei; Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger für drei; Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger und den kleinen Finger für vier und die gesamte Hand für fünf. Der Daumen steht also für fünf und nicht für eins, wie bei uns.


Vgl. Vera F. Birkenbihl: Signale des Körpers. Körpersprache verstehen. 10. Aufl . München 1995, S. 196 f.

Europäer und Südamerikaner

Was passiert, wenn ein Europäer und ein Südamerikaner aufeinander treffen? Der amerikanische Sozialpsychologe Paul Watzlawick erzählt folgende Begebenheit:„In einem Reitclub in Sao Paulo musste deshalb sogar der Schrei ner kommen und ein Geländer höher machen. Immer wieder waren Leute rücklings über dieses Geländer gestürzt – nie Brasilianer, sondern immer nur Nordamerikaner oder Europäer. Jedesmal war Folgendes passiert: Ein Brasilianer und einer der Ausländer waren ins Gespräch gekommen. Der Brasilianer rückte immer näher auf, um die für ihn richtige Gesprächsdistanz einzunehmen. Der Ausländer wich zurück, um die für ihn richtige Distanz wieder herzustellen. Das ging solange weiter, bis der Ausländer rückwärts über die Brüs tung fiel.“

Paul Watzlawick: Jeder Mensch kommuniziert – auch wenn er gar nichts sagt. In: P.M. Perspektive Kommunikation, 89/112, S. 53 f.

Wahrnehmungsmuster sind auch kulturell geprägt. Die gleichen Ausdrucksgesten werden in verschiedenen Ländern unterschiedlich interpretiert und verstanden, was zu vielerlei Missverständnissen führen kann. Selbst unsere Lesegewohnheiten sind nicht universell. Die arabische Schrift wird in unserer Wahrnehmung „falsch“, nämlich von hinten nach vorne gelesen. Die Forschung geht heute davon aus, dass es keine allgemeinverbindlichen
nonverbalen Ausdrucksmuster aller Menschen gibt, sondern nur kulturspezifische.

Unsere Wirklichkeit kann also mit dem gleichen Anspruch auf Gültigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln wahrgenommen werden. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen.

  • Gebärdensprache wird permanent und weltweit benutzt. Doch sie ist nicht immer eindeutig

    Kopfschütteln wird im europäischen Kulturkreis als Verneinung interpretiert. In Indien bedeutet Kopfschütteln jedoch Zustimmung.
    Kopfnicken wird im europäischen Kulturkreis als Zustimmung gewertet. Im Vorderen Orient wird jedoch zwischen Kopfnicken nach unten, was Zustimmung bedeutet, und Kopfnicken nach oben, was Verneinung oder Ablehnung bedeutet, unterschieden.

  • „Blau sein ...“ bedeutet für einen Engländer, dass er melancholisch ist. Wenn ein Deutscher „blau“ ist, ist er betrunken. In Amerika wird jemand, der betrunken ist als „black“ bezeichnet.
  • Die Faust als Drohgebärde ist auf der ganzen Welt gebräuchlich. Als Grußsymbol haben sie z.B. Kommunisten und Black-Power-Mitglieder verwendet.

Der richtige Abstand

In jeder Kultur gibt es einen „richtigen Abstand“, den man einem Fremden gegenüber einzunehmen hat. In Westeuropa und in Nordamerika ist diese Abstand die sprichwörtliche Armeslänge. Im Mittelmeerraum und in Lateinamerika ist dieser Abstand wesentlich näher: zwei aufeinander zugehende Personen bleiben auf viel kürzerer Distanz voneinander stehen.

Farben haben unterschiedliche Wirkungen und Bedeutungen

Farben sind weit mehr als eine bestimmte Wellenlänge des Lichts. Sie werden z.B. im politischen Bereich verschiedenen Strömungen und Ideologien zugeordnet. So beinhaltet die Bezeichnung „Schwarzer“, oder „Roter“ hier
etwas völlig anderes als z.B. im ethnonationalen Bereich. Unterschiedliche Lebensweisen in verschiedenen Kulturen haben zu unterschiedlichen Bedeutungsinhalten für Farben geführt. In Europa ist Grün die normale
Landschaftsfarbe. Für Wüstenvölker aber ist es die Farbe des Paradieses. Grün ist deshalb die heilige Farbe des Islam. Der höchste ägyptische Gott hat eine grüne Hautfarbe. In Kulturen, in denen Grün hohe Werte symbolisiert, gilt es als männliche Farbe. Eskimos kennen viele Namen für die Farbe Weiß, dies ist leicht verständlich, wenn man bedenkt, dass sie sich in einer „weißen Welt“ zurechtfinden müssen.

Die „richtige“ Lesefolge?

Die „natürliche“ Lesefolge in unserem Kulturkreis (und damit auch die Aufmerksamkeit bei Schriftstücken) geht von links oben nach rechts unten. Hier ist der Lesevorgang beendet. Das Auge weicht nicht freiwillig von
dieser Lesefolge ab. Die natürliche Lesefolge im arabischen Kulturkreis geht (bei Büchern und Zeitungen in unserem Verständnis) von hinten nach vorne und auf der jeweiligen Seiten von rechts oben nach links unten. Hier
ist dann der Lesevorgang beendet.

Interkulturelle Wahrnehmung als Teil interkulturellen Lernens

Was wir sehen, hängt von der Bedeutungszuweisung an bestimmte Formen und Linien ab und somit von bestimmten kulturell geprägten Schemata. Eine differenzierte Wahrnehmung, Kenntnisse über unterschiedliche Bedeutungsinhalte für dieselben Vorgänge und eine entsprechende Interpretation von Situationen sind entscheidende Voraussetzungen für interkulturelles Lernen. Interkulturelles Handeln ist deshalb so schwierig, weil unterschiedliche Denkmuster, Verhaltensweisen und emotionale Ausdrucksformen aufeinandertreffen und (noch) keine gemeinsame Situationsinterpretation vorhanden ist. Deshalb ist das Kennen von anderen (fremden) Orientierungs- und Symbolsystemen, von Denkmustern und Ausdrucksformen für interkulturelles Lernen zentral. Dies alles ist verbunden mit der Relativierung oder gar Infragestellung bisher gültiger Orientierungsmuster. Dies verunsichert und macht oft genug sogar Angst. Der Erziehungswissenschaftler Bernd Sandhaas beschreibt verschiedene Stufen des interkulturellen Lernens:

  • Aufmerksam/sich bewusst werden für Fremdes ist der erste Schritt weg vom Ethnozentrismus. Er besteht darin, die fremde(n) Kultur(en) überhaupt wahrzunehmen – ohne sich vor ihr/ihnen zu fürchten bzw. sie als feindlich zu erleben.
  • Verständnis entwickelt sich, wenn jemand einzusehen beginnt, dass die andere(n) Kultur(en) eine eigene Identität und Komplexität besitzen.
  • Akzeptieren/respektieren der fremden Kultur beginnt, wenn man kulturelle Differenzen, auf die man stößt, als für die fremde Gesellschaft gültig akzeptiert, ohne sie als schlechter oder besser zu bewerten.
  • Bewerten/beurteilen findet statt, wenn man bewusst beginnt, Stärken und Schwächen der anderen Kulturen zu unterscheiden und für sich selbst einzelne Aspekte davon zu bewerten.
  • Selektive Aneignung neuer Einstellungen und neuen Verhaltens kann sich ereignen, wenn oder sobald man bewusst oder unbewusst auf spezifische Charakteristika der Gastkultur stößt, die man als nützlich oder nacheifernswert empfindet.

Um sich mit anderen Kulturen auseinandersetzen zu können, ist neben der Möglichkeit zur Begegnung die Möglichkeit, fremde Sprachen zu lernen, zentral und sollte so früh wie möglich (bereits ab dem Kindergartenalter) gefördert werden. Interkulturelles Lernen bedarf desweiteren der Unterstützung und Absicherung durch Eltern, Peer-Groups (also dem eigenen Bezugsfeld) sowie gesellschaftlicher Institutionen. Es kann nicht gegen diese, sondern nur mit diesen gemeinsam gelingen. Die Öffnung und Offenheit für andere Lebensweisen und Einstellungen, die gemeinsame Neugier auf andere Erfahrungen muss von diesen geteilt und bewusst betrieben werden. Nur dann ist es möglich, sich angstfrei auf solche Lernprozesse einzulassen.

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