Was ist Gewalt gegen Kinder?
„Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige (bewusste oder unbewusste) gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen (z. B. Kindergärten, Schulen, Heimen) geschieht und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht“ (Bast, 1978).
Diese Definition wird auch vom deutschen Bundestag verwendet, selbst wenn sie nicht mit den entsprechenden strafrechtlichen Definitionen übereinstimmt. In ihr wird deutlich, dass Gewalt gegen Mädchen und Jungen folgende Formen annehmen kann: Körperliche Gewalt, seelische Gewalt, Vernachlässigung und sexualisierte Gewalt. Häufiger spielen sich fast unbemerkt sublime Peinigungen ab, wenn in Familien oder Einrichtungen Mädchen und Jungen von Erwachsenen Unrecht getan wird. Dabei kann seelisches Quälen der physischen Misshandlung in keiner Weise nachstehen, wird jedoch nicht selten erstaunlich lange toleriert und verschwiegen (Neuhäuser, 1995).
Zu unterscheiden ist jeweils die Misshandlung als aktive und die Vernachlässigung als passive Form. Mehrere Formen können bei einem Kind auch gleichzeitig vorkommen. Bei der Kindesmisshandlung geschieht die Schädigung des Kindes nicht zufällig. Meist wird eine verantwortliche erwachsene Person wiederholt gegen ein Mädchen oder einen Jungen gewalttätig. Gewalt wird fast immer in der Familie oder in anderen Zusammenlebenssystemen ausgeübt. Häufig ist die Gewaltanwendung der Erwachsenen ein Ausdruck eigener Hilflosigkeit und Überforderung. Die zunehmende Auseinandersetzung mit der Gewalt gegen Mädchen und Jungen in unserer Gesellschaft darf nicht dazu führen, dass wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf misshandelnde Täter (und ihre Opfer) richten und dabei die Gewaltförmigkeit der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse vergessen. Diesen Verhältnissen sind alle Menschen – je nach ihrer sozialen Lage – ausgesetzt. Gewalt hat vielschichtige Ursachen und ist in gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden. Die Häufung von Einschränkungen und Belastungen, von sozialen Benachteiligungen, von materieller Armut und psychischem Elend ist eine häufig übersehene Ursache für Gewalt gegen Kinder (Abelmann-Vollmer, 1997).
Den verantwortlichen Erwachsenen sollen frühzeitig Hilfen zur Selbsthilfe angeboten werden. Dabei müssen verschiedene Institutionen unterstützend zusammenarbeiten, um dem komplexen Problem gerecht zu werden.
Gewaltformen
Viele Erwachsene halten Schläge nach wie vor für ein legitimes Erziehungsmittel. Die meisten geben dabei an, dass ihnen „ein Klaps zur rechten Zeit auch nicht geschadet habe“ und dass sie dieses Prinzip genauso für ihre Kinder angemessen finden. Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der allgemeinen Billigung der körperlichen Züchtigung Minderjähriger und der Kindesmisshandlung. Erziehungswissenschaft und Psychologie können den Nutzen von Gewalt in der Erziehung nicht belegen, ja sie warnen vor den schädlichen Folgen (Saigo, 1995). Der Schutz von Mädchen und Jungen vor jeder Form von Gewalt innerhalb und außerhalb ihrer Familien muss im Erziehungsalltag oberstes Gebot darstellen.
Körperliche Gewalt
Erwachsene üben körperliche Gewalt an Mädchen und Jungen in vielen verschiedenen Formen aus. Verbreitet sind Prügel, Schläge mit Gegenständen, Kneifen, Beißen, Treten und Schütteln des Kindes. Daneben werden Stichverletzungen, Vergiftungen, Würgen und Ersticken, sowie thermische Schäden (Verbrennen, Verbrühen, Unterkühlen) bei Kindern beobachtet. Das Kind kann durch diese Verletzungen bleibende körperliche, geistige und seelische Schäden davontragen oder in Extremfällen daran sterben.
Schwere physische Misshandlungen und deren Folgen betreffen vor allem Säuglinge und Kleinkinder. Sie sind in 95 % aller Fälle Wiederholungs- bzw. Vielfachtaten. Sie sind also KEINE Affekthandlungen. Wir müssen davon ausgehen, dass 10 % dieser wiederholten physischen Misshandlungen zum Tode von Jungen oder Mädchen führen und es in mindestens doppelt so vielen Fällen zu einer bleibenden Gesundheitsschädigung kommt (Jacobi, 1995).
Seelische Gewalt
Seelische oder psychische Gewalt sind „Haltungen, Gefühle und Aktionen, die zu einer schweren Beeinträchtigung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind führen und dessen geistig-seelische Entwicklung zu einer autonomen und lebensbejahenden Persönlichkeit behindert“ (Eggers, 1994). Die Schäden für die Mädchen und Jungen sind oft folgenschwer und daher mit denen der körperlichen Misshandlung vergleichbar. Seelische Gewalt liegt z.B. dann vor, wenn dem Kind ein Gefühl der Ablehnung vermittelt wird. Für das Kind wird es besonders schwierig, ein stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen. Diese Ablehnung wird ausgedrückt, indem das Kind gedemütigt und herabgesetzt, durch unangemessene Schulleistungen oder sportliche und künstlerische Anforderungen überfordert oder durch Liebesentzug, Zurücksetzung, Gleichgültigkeit und Ignorieren bestraft wird.
Schwerwiegend sind ebenfalls Akte, die dem Kind Angst machen: Einsperren in einen dunklen Raum, Alleinlassen, Isolation des Kindes, Drohungen, Anbinden. Vielfach beschimpfen Eltern ihre Kinder in einem extrem überzogenen Maß oder brechen in Wutanfälle aus, die für das Kind nicht nachvollziehbar sind. Mädchen und Jungen werden auch für die Bedürfnisse der Eltern missbraucht, indem sie gezwungen werden, sich elterliche Streitereien anzuhören, oder indem sie in Beziehungskonflikten instrumentalisiert werden und dadurch in einen Loyalitätskonflikt kommen. Auch über behütendes und über fürsorgliches Verhalten kann zur seelischen Gewalt werden, wenn es Ohnmacht, Wertlosigkeit und Abhängigkeit vermittelt.
Vernachlässigung
Die Vernachlässigung stellt eine Besonderheit sowohl der körperlichen als auch der seelischen Kindesmisshandlung dar. Eltern können Kinder vernachlässigen, indem sie ihnen Zuwendung, Liebe und Akzeptanz, Betreuung, Schutz und Förderung verweigern oder indem die Kinder physischen Mangel erleiden müssen. Dazu gehören mangelnde Ernährung, unzureichende Pflege und gesundheitliche Fürsorge bis hin zur völligen Verwahrlosung. Diese Merkmale sind Ausdruck einer stark beeinträchtigten Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Gewalt in der Familie
Gewalt findet besonders häufig innerhalb von Familien statt:„Wenn Sie Opfer von Gewalt werden wollen, gründen Sie eine Familie“, sagt Kai Detlef Bussmann, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Halle-Wittenberg. Diese Aussage sei zwar zugespitzt, aber „statistisch gesehen“ richtig. Bussmann hat in seiner Studie „Gewaltfreie Erziehung“ im Auftrag des Bundesfamilienministeriums Gewalt und Gewaltprävention erforscht. 20 Prozent der Jugendlichen in Deutschland erleben demnach Gewalt in der Erziehung, zwei bis drei Millionen Kinder werden während dieser Zeit mindestens einmal schwer misshandelt, so die Studie. Es sei die Familie, die eine Spirale der Gewaltorientierung auslöse, nirgendwo finde so viel ungeahndete Gewalt statt wie dort.„Am Anfang stand die Annahme, die Familie sei ein Hort der Harmonie, heraus kam: sie ist ein Schlachtfeld“, sagte Bussmann. Frauen drohe in Familien ein zehnfach höheres Risiko, Gewalt zu erleben, als außerhalb. Wer aber zuhause Gewalt erlebe, werde sie später auch eher selbst anwenden. Eine effiziente Gewaltprävention müsse deshalb in der Familie beginnen, forderte Bussmann. Welt am Sonntag, 24.1.2007
Sexualisierte Gewalt
Als sexuelle Ausbeutung wird jede sexuelle Handlung eines Erwachsenen / eines Jugendlichen an einem Mädchen oder einem Jungen gesehen, welche / welcher aufgrund seiner emotionalen und kognitiven Entwicklung nicht in der Lage ist, der Handlung frei zuzustimmen. Das betroffene Kind wird unter Ausnutzung seiner gegebenen Abhängigkeits- und Vertrauensbeziehung zum Objekt der Befriedigung sexueller und aggressiver Bedürfnisse des handelnden Erwachsenen oder älteren Jugendlichen. Hierbei geht es nicht in erster Linie um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse, sondern um das Ausleben von Macht-, Dominanz- und Überlegenheitsansprüchen. Ein zentrales Moment sexueller Ausbeutung und Gewalt ist die Verpflichtung zur Geheimhaltung. Sie verurteilt das Kind zur Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit (Arbeitsdefinition der AG Kinderschutz des Jugendamtes Frankfurt a.M.).
Formen sexualisierter Gewalt sind das Berühren des Mädchens oder Jungen an den Geschlechtsteilen, die Aufforderung, den Täter/die Täterin anzufassen, Zungenküsse, oraler, vaginaler und analer Geschlechtsverkehr, Penetration mit Fingern oder Gegenständen. Auch Handlungen ohne Körperkontakt wie Exhibitionismus, Darbieten von Pornographie, sexualisierte Sprache und Herstellung von Kinderpornographie sind sexuelle Gewaltakte. Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen wird in den meisten Fällen von Personen aus der Familie oder dem sozialen Nahbereich der Mädchen und Jungen begangen. Ein wesentlicher Unterschied zur körperlichen Misshandlung ist, dass der Täter häufiger in überlegter Absicht handelt. Sexuelle Übergriffe sind eher geplant als körperliche Gewalttaten.
Risikofaktoren / Belastungsfaktoren
Der Begriff der Risikofaktoren kann in diesem Zusammenhang sehr leicht missverstanden werden. Es soll hier nicht ausgedrückt werden, dass es zu Gewalt gegen Mädchen und Jungen kommen muss, wenn bestimmte Faktoren vorhanden sind. Der Begriff Risikofaktor verdeutlicht, dass die Wahrscheinlichkeit der Kindesmisshandlung größer ist, wenn mehrere Faktoren zusammen vorliegen. Dies birgt jedoch auch die Gefahr, dass Vorurteile geschürt werden und damit der Blick der helfenden Person eingeengt wird. Darum wurde der Begriff des Belastungsfaktors gewählt, der nicht automatisch zum Risikofaktor werden muss. (Vgl. 3.2, M 4).
Wenn der Arzt / die Ärztin sich dieser Gefahr bewusst sind, kann das Wissen über Belastungsfaktoren als wertvolles Werkzeug sowohl in der Prävention als auch in der Früherkennung von Kindesmisshandlung eingesetzt werden.
Wann Belastungsfaktoren zu Risikofaktoren werden, ergibt sich aus der individuellen Situation des Kindes in seinem sozialen Umfeld. Es darf allerdings nie vergessen werden, dass alle Kinder von Gewalt betroffen sein können.
Heutige Erklärungsansätze gehen davon aus, dass weder genetische Vorgaben noch sozioökonomische Bedingungen allein das Zustandekommen von Misshandlungen erklären. Gewalt ist eher ein Ausdruck von Benachteiligung, Hilflosigkeit und Unfähigkeit, mit den Bedürfnissen des Kindes angemessen umzugehen. Wenn der Druck und die Belastungen von außen zu stark werden, entlädt sich die familiäre Aggression am schwächsten Glied der Familie, dem Kind (Remschmidt, 1986). Belastungsfaktoren können beim Kind, bei den Eltern oder in der Familiensituation liegen. Insbesondere sind zu nennen:
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Sehr häufig sind Familien, in denen Mädchen und Jungen vernachlässigt werden, von Armut, schlechten Wohnverhältnissen, Langzeitarbeitslosigkeit, geringem Bildungs- und Ausbildungsniveau, sozialer Isolation und Ausgrenzung betroffen. Dazu kommen oft gesundheitliche oder psychische Beeinträchtigungen der Eltern, Alkohol- und Drogenkonsum, Trennungs-, Scheidungs- oder Partnerschaftsprobleme und fehlende Zukunftsperspektiven.
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Vor allem die Mütter sind durch unerwünschte und sehr frühe Schwangerschaften und zu rasche Geburtenfolge belastet. Insbesondere alleinerziehende Mütter / Väter ohne stützendes soziales Umfeld werden in solchen Situationen häufig überfordert.
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Während bei der körperlichen Misshandlung und bei der Vernachlässigung persönlichkeitsbedingte und Struktur bedingte Merkmale zusammenwirken, werden bei sexualisierter Gewalt in viel stärkerem Maße persönliche und familiäre Belastungsfaktoren angenommen (Finkelhor, 1986).
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Es wird vermutet, dass ein hoher Anteil von Tätern in der Kindheit selbst sexualisierter Gewalt ausgesetzt war. In einer Art Wiederholungszwang gibt der Täter seine eigene Demütigung weiter (Finkelhor, 1986).
Für die seelische Gewalt sind praktisch keine Belastungsfaktoren bekannt, die sich von denen für Kindesmisshandlung allgemein unterscheiden. Vermutlich ist sie die in Oberschichtfamilien häufigste Form der Gewalt. In solchen Familien ist materielle Benachteiligung und daraus resultierende Überforderung weniger ein Problem, so dass körperliche Gewalt seltener vorkommt oder zumindest besser verborgen werden kann. Die Gewalttätigkeit wird also eher in psychischer Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung ausgedrückt.
Hessischer Leitfaden für Arztpraxen: Gewalt gegen Kinder. Was ist zu tun bei „Gewalt gegen Mädchen und Jungen“. Herausgeber: Berufsverband der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Deutschlands e.V. / Landesverband Hessen Unterstützt durch: Hessisches Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit, Wiesbaden, Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Landesärztekammer Hessen, Techniker Krankenkasse/Landesverband Hessen. Wiesbaden 1998, S. 9-19, Auszug.